Der Krieg der USA gegen Irak stelle eine radikale Richtungsänderung innerhalb der internationalen Beziehungen dar. So und ähnlich äusserten sich europäische Regierungen, die sich gegen die US-Intervention stellten. Tatsächlich stellt der Krieg gegen den Irak aber eine Etappe einer Entwicklung dar, die lange vor dem «Krieg gegen Terror» der USA begonnen hat – und an der auch andere westliche Länder beteiligt sind.
Der Irak-Krieg, den die USA und über 20 unterstützende Nationen im Frühjahr dieses Jahres führten, um einen Diktator von der Macht zu entfernen, den sie selber jahrelang dort gehalten hatten, wurde in vielen europäischen Ländern in Frage gestellt, in der Öffentlichkeit, in den Medien und von Politikern. Oftmals waren es dabei die gleichen Politiker, die vor ein paar Jahren noch für die Bombardierung Serbiens eingetreten waren. Der Krieg gegen Irak wurde als «gefährlicher Präzedenzfall» und als «Bruch des Völkerrechtes» bezeichnet, allgemein wurde der Angriffskrieg gegen Irak als eine radikale Richtungsänderung der US-amerikanischen Aussenpolitik aufgefasst, und die Medien überboten sich mit Portraits der angeblich dahinter stehenden Strategen wie Perle, Wolfowitz, Cheney. Als Grundlage, die von diesen Strategen geschaffen worden ist, um den Angriffskrieg zu legitimieren, wurde die Nationale Sicherheitstrategie der USA («a new National Security Strategy of the United States of America») angesehen, die im Herbst 2002 verabschiedet worden war. Ein Blick auf die politischen Handlungen der USA nach dem Zusammenbruch des Kalten Krieges hätte allerdings gezeigt, dass diese strategischen Grundlagen um einiges älter sind als die Regierung Bush und ihr «war against terrorism» – auch wenn dieser einen zusätzlichen Schritt zur Abkehr von internationalen Regelungen darstellt.
Die Welt nach dem Kalten Krieg
Der Kalte Krieg war geprägt von Stellvertreter-Kriegen und Drohgebärden der Supermächte UDSSR und USA. Die Uno war aufgrund ihrer Strukturen im Sicherheitsrat (Vetorecht für USA, GB, China, UDSSR, F) während Jahrzehnten praktisch blockiert und konnte sich nur bescheiden in internationale Konflikte einschalten. Beispielsweise führte sie im Zeitraum zwischen 1945 und 1988 gerade mal 13 Friedensmissionen durch; ein – wenn man bedenkt, dass etwa momentan 13 Missionen nebeneinander laufen – ein sehr bescheidener Einsatz von militärischen UN-Friedensbemühungen. Nach dem Zusammenbruch des Kalten Krieges und dem dadurch erfolgten Bedeutungsverlust der Nato schien sich dies grundsätzlich zu ändern. Die Uno wurde als diejenige Organisation betrachtet, die eine grundlegende Änderung der internationalen Beziehungen weg von der Machtpolitik der einzelnen Staaten hin zu einem System der kollektiven Sicherheit in die Wege leiten könnte. Einige Beobachter meinten gar, mit dem Zusammenbruch des Kalten Krieges sei endlich die Zeit gekommen, in der die Uno ihre Aufgaben und Funktionsweise, die sie sich vor 50 Jahre gegeben hatte, endlich aufnehmen könnte. Die Uno hat in ihrer Charta 1945 nämlich nicht nur Grundlagen für die Schlichtung von internationalen Konflikten geschaffen, sondern auch ihr Gewaltmonopol – zu dem sich die Staaten übrigens mit dem Beitritt zur Uno noch immer verpflichten, da die Uno-Charta völkerrechtlich ein Vertrag darstellt – in der Charta festgeschrieben.
Diese gestiegenen Hoffnungen in die Uno führten nach 1989 zu einer Ausweitung der Friedensbemühungen der Uno – aber gleichzeitig auch, und dies wird im Rückblick umso klarer, zu Anstrengungen verschiedener Staaten und Staatenbündnisse, diesen möglichen Bedeutungsgewinn der Uno wieder einzudämmen. Betrachtet man die Veränderungen in den politischen Konzepten der Nato, der USA und der EU in den letzten 14 Jahren, so wird das offensichtlich.
Die Nato
War die North Atlantic Treaty Organization (NATO) 1949 als Verteidigungsbündnis gegen die Sowjetunion konzipiert worden, so änderte sich ihre Doktrin nach dem Zusammenbruch des Kalten Krieges. In der Zeit zwischen 1990-1992 wurden die Grundlagen geschaffen für militärische Konfliktinterventionen mittels «Peacekeeping» oder «Peaceenforcement». Diese Einsätze sollten zwar auf einem Uno-Mandat basieren, aber nur dann durchgeführt werden, wenn direkte Interessen der NATO-Mitgliedsstaaten tangiert sind. Zudem sollten die Einsätze unter klarem Kommando der NATO stattfinden. Zum ersten Mal zur Anwendung kam diese Doktrin mit der Einsetzung der Implementation Force (IFOR) in Bosnien – die treibende Kraft innerhalb der NATO waren zu diesem Zeitpunkt die USA. An ihrem 50. Geburtstag im April 1999 sprach sich die NATO das Recht zu, auch ausserhalb ihres Territoriums – und notfalls auch ohne explizites Uno-Mandat – zu intervenieren, eine Strategie, die mit der Bombardierung Serbiens im Jahr 1999 auch angewandt wurde. Die Einsätze der Nato im ehemaligen Jugoslawien entsprachen also mit wechselseitiger Wirkung den Grundlagen in ihrer Doktrin; einer Doktrin, die nach 1989 auf den schrittweisen Abbau von Bindung an die Uno setzte.
Wie sehr es der Nato im ehemaligen Jugoslawien gelungen ist, sich selbst als entscheidender Akteur und die Uno als Versager darzustellen, zeigt ein Zitat von Richard Perle, bis vor kurzem Berater von US-Präsident Bush: «Schauen Sie sich doch mal Bosnien an. Da war es notwendig, dass die USA die Führung übernehmen, weil niemand anderes dazu in der Lage war. Man hatte die europäische Führung ausprobiert, und Hunderttausende unschuldiger Menschen mussten sterben. Und die UNO hat alles nur noch schlimmer gemacht, weil die Bosnier wegen ihres Waffenembargos wehrlos waren.»
Nicht erwähnt wird von Perle, dass in Bosnien die UNO systematisch als hilflos vorgeführt wurde und sich zur Position des bewaffneten Beobachters verdammt sah, da ihr die Großmächte nie ein wirksames Mandat erteilt hatten Die große Demontage der Weltorganisation setzte hier ein. Die europäischen Staaten und die USA verfolgten ihre Sonderinteressen, die mehr mit Dominanz und Profilierung untereinander zu tun hatten als mit der Lage in einem vom Krieg gestraften Land. «Auf der Bühne des zerbrechenden Jugoslawiens wird ein fremdes Stück gespielt». So nannte Horst Grabert, früher deutscher Botschafter in Belgrad, diese Entwicklung.
Die USA
Die USA waren wohl das Land, welches dem Bedeutungsgewinn der Uno nach dem Kalten Krieg am entschiedensten entgegentrat. Die Regierungen Bush Senior aber auch Clinton machten klar, dass sie eine Aufgabe des Handlungsspielraumes, den sie während des Kalten Krieges besessen hatten, nicht akzeptieren würden. Es wurden Schritte unternommen, um die Friedensbemühungen und damit die Bedeutung der Uno gar nicht erst erstarken zu lassen. Dies geschah einerseits mittels der zurückbehaltenen Beitragszahlungen zur Uno aber auch im Rückzug der USA von der Finanzierung und Unterstützung jeglicher militärischer Uno-Missionen, den Clinton 1995 in der «Präsidentendirektive 25» anordnete.
Zudem führten die USA auch unter Clinton eine Aussenpolitik fort, die auf der Durchsetzung von nationalen Interessen bestand. So schrieb Clinton in der 1995 verabschiedeten «National Security Policy of Engagement and Enlargement»: «Die Verteidigung vitaler nationaler Interessen rechtfertigt die entscheidende und einseitige Anwendung von militärischer Gewalt».
«Mit der Uno, wann immer möglich – ohne sie, wann immer notwendig», so lautete in der Folge die Strategie der US-Regierung . Die nach Clinton gewählte Regierung Bush macht keine Anstalten, von dieser Strategie abzukommen. Mit der Formulierung der «New National Security Strategy of the United States of America» im Herbst 2002 machte sie im Gegenteil einmal mehr klar, dass eigene Interessen auch einen Krieg legitimieren würden. In der Doktrin wurden u.a. folgende Punkte als Ziele formuliert: Bereitschaft zum unilateralen (militärischen) Handeln, falls von den USA als nötig erachtet; den Anspruch auf globale politische Führung durch die USA, die kontinuierliche Sicherstellung technologischer Überlegenheit; die Doktrin konkurrenzloser militärischer Dominanz, die Verknüpfung derselben mit dem Ziel der Ressourcensicherung, die Garantie des freien Welthandels zu für die USA günstigen Bedingungen sowie die ultimative Entschlossenheit, die Proliferation von nuklearen, biologischen oder chemischen Massenvernichtungswaffen zu verhindern. Diese Punkte waren aber mehr oder weniger alle bereits in strategischen Grundlagen der Regierungen Clinton formuliert. Daher gibt es viele Experten, die die neue Sicherheitsdoktrin, die nun als «Bush-Doktrin» bekannt wurde, als eine Fortführung bekannter Politik denn als Richtungsänderung betrachten. Eine klare Aktzentuierung gibt es aber trotzdem in der Frage, wann ein Krieg gerechtfertigt erscheint: «In the new world we have entered, the only path to peace and security is the path of action». So begründet Bush in seiner Doktrin die Gewichtsverlagerung von präemptiven Kriegen (Kriege, die geführt werden, wenn ein Angriff des Gegners unmittelbar bevorsteht) hin zu präventiven Kriegen (Kriege, die zur Prävention einer Gefahr auch im Voraus geführt werden dürfen). Es muss also gehandelt werden – notfalls ohne Rücksicht auf die Uno und das Völkerrecht.
Die EU
Die EU als Sicherheitsorganisation war seit Jahren im Gespräch, in der Realität aber lange blockiert (vgl. auch den Artikel im zweiten Bund dieser Zeitung). Seit sich die Regierungen der Mitgliedsstaaten im Jahr 1992 an den Petersburger Gesprächen für die Schaffung einer Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GASP) ausgesprochen hatten , liefen hinter den Kulissen intensive Diskussionen mit der NATO über die Nutzung von gemeinsamen Kapazitäten – ein Aushandlungsprozess, der von der Türkei, aber auch von anderen NATO-Staaten, lange behindert wurde. Langfristiges Ziel der EU ist der Aufbau einer «Rapid Reaction Force», die bis 60’000 Soldaten umfassen soll. Beinahe unbemerkt von der Weltöffentlichkeit ist die EU seit Anfang dieses Jahres am Aufbau einer Polizeimission in Bosnien und Herzegowina und einer Peacekeeping-Mission in Mazedonien – ein Einsatz, der nicht unproblematisch ist, da es sich um den Nachfolge-Einsatz der NATO-Operationen «Essential Harvest» und «Amber Fox» handelt, Einsätze, für die kein Mandat der Uno vorlag. Unter diesem Aspekt betrachtet, ist der erste militärische Einsatz der EU auch gleich der erste Einsatz ohne Uno-Mandat . Die EU will als kriegsführender Akteur Potenz erlangen: Dies demonstriert sie in diesen Monaten mit ihrem zweiten militärischen Auslandseinsatz, diesmal mit Uno-Mandat im Kongo.
Auf Gedeih und Verderb
Die vorausgehenden Betrachtungen haben gezeigt, dass die Herausbildung eines Systemes kollektiver Sicherheit und damit die Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten der einzelnen Länder oder Staatenbündnisse in den letzten Jahren nicht nur von den USA sondern auch von anderen Staaten behindert wurde. Das führt nicht nur dazu, dass die Uno weiterhin ein sehr eingeschränkter Akteur in internationalen Friedensbemühungen bleibt – alle ihre Friedensbemühungen hängen auf Gedeih und Verderb vom Segen der Grossmächte ab – , sondern auch dazu, dass es weiterhin keine Regelungen gibt, welche ein Vorgehen von Staaten ausserhalb der Uno-Charta sanktionieren könnte.