«Es gibt keine chirurgischen Eingriffe in kriegerischen Konflikten»

Der Filmemacher Samir, im deutschsprachigen Raum bekannt durch seine einfühlsamen Dokumentarfilme wie “Babylon 2” und “Forget Bagdad”, ist als Kind mit seiner Familie vom Irak in die Schweiz eingewandert. Stefan Luzi sprach mit ihm über seine Gründe, sich gegen den drohenden Krieg gegen Irak auszusprechen.

Stefan Luzi: Samir, du bist gebürtiger Iraker. Welche Gefühle hast du, wenn du von den Kriegsvorbereitungen gegen Irak hörst?

Samir: Im Grunde sind es ambivalente Gefühle. Auf der einen Seite weckt der Diktator Saddam Hussein natürlich solche Hassgefühle in mir, dass ich ihn am liebsten weg wünschen würde. Man denke nur an all die Schrecken, die das Regime in den letzten 30 Jahren den Menschen im Irak gebracht hat… Auf der anderen Seite denke ich natürlich an die irakische Zivilgesellschaft. Bereits der erste Krieg gegen Irak hatte so verheerende Auswirkungen auf die irakische Bevölkerung, dass es einfach schrecklich ist, sich vorzustellen, dass das noch einmal passiert. Und natürlich schmerzt es mich, wenn ich an all diese Menschen denke, die in einem Krieg “kaputt” gemacht werden. Wenn ich an die amerikanische Kriegsmaschinerie denke, so kann ich nur lachen, wenn ich von Präzisionswaffen höre: Bisher haben diese Präzisionswaffen hauptsächlich Hochzeitsgesellschaften, Kinderspitäler und Schulen getroffen. Es ist eine absurde Idee, zu denken, dass es sowas wie einen chirugischen Krieg geben sollte.

Wie erleben die Menschen im Irak die gegenwärtige Situation und die Folgen der jahrelangen Sanktionen?

Die Situation der Menschen ist nach zehn Jahren Embargo katastrophal. Das haben wir auch gerade wieder bei den Vorbereitungen für ein laufendes Filmprojekt – ein Film eines jungen Schweizers über die Zukunft der irakischen Jugend – miterlebt. Die Mehrzahl meiner Familie ist aus dem Irak ausgewandert, weil es für sie schlicht unmöglich wurde, unter den herrschenden Umständen zu leben. Viele davon sind Leute mit Bildung, Ärzte, Ingenieure, die der Zivilgesellschaft nun stark fehlen. Sie gehören zu den drei bis fünf Millionen irakischen BürgerInnen, die in den letzten zehn Jahren aus dem Irak ausgewandert sind. Das Embargo hat das ganze irakische Volk getroffen und zu einer solchen Verelendung geführt, dass auch ein Teil meiner Familie im Irak während Jahren vor allem von mir abhängig war. Man muss sich das einmal vorstellen: Wenn ein Onkel, der seine eigene Klinik aufgebaut hat und während Jahren hart gearbeitet hat, plötzlich von seinem Neffen in der Schweiz abhängig ist, so ist das schrecklich. Die Menschen im Irak sind abhängig von den Almosen des Regimes und damit diesem ausgeliefert. Es ist eine grosse Depression spürbar – das Gefühl, von der Welt vergessen zu werden.

Welche Ziele vermuten die Menschen im Irak hinter den Kriegsdrohungen der US-Regierung?

Im Irak hat man nur wenige Möglichkeiten, “freie” Informationen zu erhalten. Trotzdem haben die Menschen, bedingt durch ihre Situation, das Gefühl, dass dieser Krieg unausweichlich ist. Die letzten Jahrzehnte haben im Irak eine solche Ohnmacht verursacht, dass die Menschen, wenn sie von den Kriegsvorbereitungen der USA hören, fatalistisch davon ausgehen, dass es auch zu einem Krieg kommen wird. Sie können sich auch nicht mehr vorstellen, was man dagegen unternehmen könnte. Sie haben während der letzten zehn Jahre zugesehen, wie Delegationen aus der ganzen Welt nach Irak reisten. An der politischen und ökonomischen Situation der Menschen hat sich aber nichts geändert. Was die Kriegsgründe der Amerikaner angeht, so wissen die Menschen im Irak schon, dass die Amerikaner sich nicht plötzlich für die irakische Kultur interessieren oder mehr Datteln importieren wollen oder ein bisschen Fische fangen wollen im Tigris – sondern, dass es um das Öl geht. Die Menschen im Irak sind ja nicht blöd.

Du hast angetönt, dass du aufgrund deiner familiären und persönlichen Geschichte genügend Gründe hast, eine Absetzung des Diktators Saddam Hussein zu wünschen. Welche Wege siehst du, um auf eine wirkliche Demokratisierung des Iraks hin zu arbeiten?

Wenn ein Regime versucht, einem Volk seinen Willen aufzuzwingen, dann wird es immer Opposition geben. Das ist auch im Falle Iraks nicht anders. Natürlich gibt es nie eine einheitliche Opposition, aber es gibt gemeinsame Ziele. Diese gemeinsamen Ziele wurden innerhalb der irakischen Opposition schon lange miteinander abgesprochen, bevor die Amerikaner ein Interesse an ihr entdeckten. Die Ziele sind die Absetzung des Diktators, die Einführung der Demokratie und die Autonomie für die KurdInnen (was eigentlich auch bereits heute in der irakischen Verfassung steht). Es gibt in der Opposition natürlich unterschiedliche Auffassungen über die Art eines Föderalismus, über die Rolle der Religion, etc.; diese Divergenzen können in einer Zivilgesellschaft aber vernünftig diskutiert werden. Ich glaube, alle Flügel der Opposition haben derart unter dem Regime von Saddam Hussein gelitten, dass sie nach einer Absetzung des Diktators vernünftig miteinander umgehen werden. Meine Befürchtungen betreffen eher die Rolle der Amerikaner. Es sieht wirklich so aus, dass die USA nach dem Sturz des Diktators ein Militärregime einrichten wollen. Die Amerikaner portieren im Moment ja auch gewisse irakische Generäle, an deren Händen Blut klebt.

Wenn man die irakische Opposition daran hindert, nach der Absetzung von Saddam Hussein eine Demokratie zu errichten, dann werden die einzelnen Fraktionen versuchen, ihre Vorstellungen mit Waffengewalt durchzusetzen. Diese Gefahr wird noch verstärkt, weil Saddam Hussein in den letzten Jahren versucht hat, seine Macht durch die Wiedereinführung von tribalen Strukturen zu verfestigen. Der Irak ist seit 50 Jahren eigentlich eine weitgehend säkuläre und durchmischte Gesellschaft. Saddam hat in den letzten Jahren nun aber versucht, neben seiner Hausmacht in der Baath-Partei, die eigentlich nur noch aus dem Geheimdienst besteht, religiöse und tribale Nebenstrukturen aufzubauen, die von ihm kontrolliert werden. Das sind natürlich destabilisierende Faktoren für eine moderne Zivilgesellschaft, denn diese Leute wurden bewaffnet und haben zum Teil auch wieder Stammesgesetze in ihren Regionen eingeführt. Wenn es nach dem Sturz von Saddam nicht gelingt, diese Kräfte zurückzudrängen, dann steht die Zivilgesellschaft im Irak vor einem grossen Problem.

Wir haben von einem “Sturz” von Saddam Hussein gesprochen, der durch die demokratische Opposition herbeigeführt wird. Ist das wirklich vorstellbar und wie würden diese Chancen durch einen US-Krieg gegen Irak tangiert?

Ein Regime, welches von aussen bedroht wird, erhält damit eine Legitimation im Innern. Saddam Hussein kann seine Macht nicht trotz, sondern gerade wegen den Kriegsdrohungen gegen Irak behaupten, da er sich in diesem Ausnahmezustand alles erlauben kann und die Opposition im Innern keinen Raum findet, um sich zu organisieren. Das war im Irak in den letzten zehn Jahren der Fall. Es war unmöglich, die Leute unter diesen katastrophalen wirtschaftlichen und repressiven Bedingungen für politischen Widerstand zu motivieren. Die Opposition konnte höchstens eine “Abstimmung mit den Füssen” machen und ins Ausland emigrieren. Sobald aber – wenn auch nur wenige – ökonomische Möglichkeiten für die Menschen unter einem Regime offenstehen, führt das dazu, dass die Menschen sich immer mehr kleine Freiräume erkämpfen, welche die Macht des Regimes schwächen.

Das Embargo und der drohende Krieg nützen nur Saddam Hussein. Daher muss die Perspektive eine Aufhebung des Embargos und eine langfristige Unterstützung der irakischen Opposition, die sich ihre Freiräume erkämpfen kann, sein. Ich glaube, Saddam Hussein wird es sehr schwer haben, sich weiter zu legitimieren, wenn es nicht zu einem Krieg kommt. Natürlich würde er zuerst versuchen, sich als Sieger zu positionieren. Aber die Leute sind nicht dumm, sie haben gesehen, dass er alles zulassen musste, was von der Uno verlangt wurde. Die Leute werden wissen, dass die Macht dieses Diktators nur noch eine beschränkte Macht ist. Ich kann mir zudem vorstellen, dass, wenn das Embargo aufgehoben wird, ein Teil des irakischen Mittelstandes wieder in den Irak zurückkehrt. Das ist die Basis für den Aufbau einer Zivilgesellschaft.

Welchen Beitrag könnte die Schweiz zur Verhinderung eines Krieges und zur Stärkung der demokratischen Kräfte im Irak leisten?

Es ist ganz wichtig, dass die Schweiz sich im internationalen Kontext zu der Frage äussert, was Völkerrecht ist und was nicht. Die Schweiz hat mit dem Uno-Sitz in Genf das Recht und die Pflicht, den kriegstreibenden Mächten zu sagen, dass es ein Völkerrecht gibt, welches eingehalten werden muss und besagt, dass kein Land ein anderes angreifen darf, wenn es nicht selbst von diesem angegriffen worden ist.

Die Schweiz hat zudem in den letzten paar Jahren einige Tausend irakische Flüchtlinge aufgenommen und bietet diesen Leuten eine Überlebensmöglichkeit und damit auch eine Chance, sich in Bezug auf die Situation im Irak zu artikulieren. Die Schweiz könnte daher – auch gerade, weil einzelne Schweizer Firmen in der Vergangenheit dreckige Geschäfte mit Saddam Hussein gemacht haben – für die Treffen der irakischen Opposition organisatorische Hilfe zur Verfügung stellen. Das würde den Leuten in der arabischen Welt das Gefühl geben, dass die Schweiz wirklich ein Land ist, das an Freiheit und Demokratie überall auf der Welt interessiert ist.

In deinem neuesten Film “Forget Bagdad” dokumentierst du auf eindrückliche Weise das Schicksal irakischer Juden, die in den 50er Jahren aus dem Irak nach Israel geflüchtet sind und die im Golfkrieg 1991 die irakischen Angriffe auf Israel miterlebt haben. Eine Botschaft aus dem Film war für mich, dass der Nahe und mittlere Osten ein derart zusammenhängendes Gebilde ist, dass sich Ereignisse in einzelnen Ländern sofort auch auf die anderen Länder der Region auswirken. Welche Rolle spielt der Konflikt in Israel/Palästina in der Diskussion um einen Krieg gegen Irak?

Die Menschen in der arabischen Welt kritisieren die Scheinheiligkeit des Westens: Warum gelten für uns Regeln, die für Israel nicht gelten? Warum seid ihr strenger mit uns? Es gibt Dutzende Uno-Resolutionen, gegen die Israel jeden Tag verstösst. Im Falle der israelischen Regierung von Sharon muss man auch davon ausgehen, dass er im Falle eines Irak-Krieges versuchen wird, seine Position eines Gross-Israels durchzusetzen. Es gibt ja bekanntermassen die “Transfer”-Pläne, die darauf hinauslaufen, dass die PalästinenserInnen nach Jordanien vertrieben werden sollen. Wenn das passiert – und das sind keine phantastischen Hirngespinste, sondern real existierende Pläne – dann wird die Region erst recht aus allen Fugen geraten. In allen arabischen Ländern wohnen heute PalästinenserInnen, deren Vorfahren 1948 aus Israel geflüchtet sind; das Bewusstsein für das palästinensische Unrecht hat sich damit rein “körperlich” über die ganze arabische Welt ausgebreitet. Und da ist es schon fragwürdig, wenn eine Macht wie die USA und eben Israel sich aus dieser Region auskoppeln will und Dinge initiiert, die aus der eigenartigen Idee geboren werden, dass man an ganz bestimmten Orten chirurgische Eingriffe herbeiführen kann, ohne dass der Rest dieser Region davon betroffen ist. Es wäre ja auch völlig unvorstellbar, einen kleinen Krieg gegen die Schweiz zu führen und zu meinen, der Rest von Europa wäre davon nicht betroffen…

Zusatzartikel:
Von Bagdad nach Zürich