Seit fast zwei Jahren setzt der türkische Staat in Kurdistan, insbesondere in den Medya-Verteidigungsgebieten, Giftgas ein. Auch wenn die kurdische Bewegung und Nichtregierungsorganisationen den Einsatz von chemischen Waffen im Jahr 2021 auf die Tagesordnung gebracht haben, hat die europäische Öffentlichkeit kein Interesse an diesem Thema gezeigt. Die kurdische Gemeinschaft, die in Europa und in der Schweiz lebt, sind jedoch über den Einsatz der chemischen Waffen in Kurdistan besorgt. Im Oktober diesen Jahres gaben die Volksverteidigungseinheiten die Identität von 17 Guerillakämpfern bekannt, die durch chemische Waffen ums Leben kamen. Im November waren es weitere 11 Guerillakämpfer.
Asmin Engin
Die Geschichte der Chemiewaffen in Kurdistan
Die Kurden waren innerhalb ihrer Geschichte mehrmals den Chemiewaffen des türkischen Staates ausgesetzt. Beim Dersim-Aufstand von 1938 wurden Zivilisten, die in Höhlen geflüchtet waren, mit deutschen Chemiewaffen durch den türkischen Staat getötet. Auch 1987 wurden im kurdischen Teil des Iraks deutsche Chemiewaffen seitens Saddam eingesetzt, wobei etwa 6’000 Menschen ums Leben kamen. Fast 10‘000 Menschen wurden verletzt und viele davon starben später an den Folgen des Angriffs. In den 80er-Jahren, mit den Anfängen der kurdischen Freiheitsbewegung, begann der türkische Staat verschiedene Methoden des schmutzigen Krieges zu ergreifen. Seit den 1990er-Jahren setzt der türkische Staat chemische Waffen gegen Freiheitskämpfer ein und begeht unzählige Menschenrechtsverletzungen. 2018 setzte das Erdogan-Regime chemische Waffen gegen Zivilisten in der Stadt Serekaniye in Nordostsyrien ein. Das Schweigen der Weltöffentlichkeit zu dem Einsatz der chemischen Waffen ermutigt das Erdogan-Regime weiterhin, Kriegsverbrechen zu begehen.
Die türkischen Angriffe seit 2021
Am 23. April 2021 wurde eine Operation gegen die kurdische Region im Irak eingeleitet. Bei diesen Angriffen gab es auf beiden Seiten Tote und ebenso mussten viele zivile Siedlungen evakuiert werden. Eine der wenigen unabhängigen Organisationen vor Ort, die Nichtregierungsorganisation «Christian Peacemaker Teams – Irakisch-Kurdistan» (CPT-IK), hat die Auswirkungen der türkischen Operationen auf die Zivilbevölkerung seit deren Beginn untersucht und dokumentiert. Das CPT-IK beobachtet seit Beginn der türkischen Militäroffensive die Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung. Einen ersten Bericht zu dem Thema veröffentlichten sie bereits am 3. Juni 2021 unter dem Titel «Keine Rückkehr“. Obwohl der türkische Staat behauptet, dass er nur gegen PKK-Mitglieder vorgeht, wurden bisher 22 Dörfer evakuiert. Tausende Menschen mussten somit ihre Dörfer verlassen.
Die Mahnwache Xosnav Ata vor dem OPCW
Es wird nicht nur die Lebensgrundlage der Familien zerstört, sondern auch ihr Leben bedroht. Dörfer werden bombardiert und die Menschen, die an der Grenze leben, sind gezwungen zu flüchten. Kurdische Organisationen haben sich wiederholt an die OPCW gewandt und gefordert, dass eine unabhängige Delegation den Einsatz von Chemiewaffen in dem Gebiet untersucht. Xoşnav Ata, der seine zwei Nichten durch den Einsatz von Chemiewaffen verloren hat, hält seit drei Monaten täglich vor dem Hauptsitz der OPCW Mahnwache, um gegen deren Untätigkeit zu protestieren. Die staatenlosen Kurden selbst können keinen Untersuchungsantrag bei der OPCW stellen, da dies nur auf Ersuchen eines OPCW-Mitgliedsstaates geschehen kann. Die Mitgliedschaft in der OPCW ist aber nur UNO-Mitgliedsstaaten vorbehalten.
Delegationsreise
Der ehemalige UN-Biowaffeninspekteur Dr. Jan van Aken aus Deutschland und Dr. Josef Savary, Präsident der IPPNW Schweiz, waren Ende September in der Kurdistan-Region Irak (KRI), um die Chemiewaffeneinsätze zu untersuchen und veröffentlichten einen Bericht über ihre Untersuchungen in diesem Gebiet. Dieser Bericht macht auf die Kriegsverbrechen aufmerksam, die der türkische Staat durch den Einsatz verbotener chemischer Waffen und Angriffe gegen Zivilisten und PKK-Kämpfer begangen hat. Demnach gibt es Hinweise, die den Verdacht in Teilen bestätigen. Der Bericht fordert eine sofortige, unabhängige internationale Untersuchung, um dem Verdacht weiter nachzugehen und künftige Verletzungen des Chemiewaffenverbots durch die Türkei mit Massnahmen im Rahmen der Vereinten Nationen zu verhindern. Şebnem Korur Fincancı, die Vorsitzende des türkischen Ärzteverbandes, wurde vom türkischen Staat verhaftet, weil sie die gleiche Forderung wie Dr. Savary und Dr. Van Aken an den türkischen Staat gestellt hat.
Die Schweizer Öffentlichkeit
Die kurdische Gemeinschaft in der Schweiz hat mit Nichtregierungsorganisationen in der Schweiz Kontakt aufgenommen, damit sie in dieser Angelegenheit aktiv werden. Leider fragen die meisten Organisationen und Einzelpersonen nach Beweisen, welche jedoch ohne Untersuchung fehlen. Daher hat die kurdische Bewegung mehrmals einen Appell an die UN und die Unterzeichner der Chemiewaffenkonvention gerichtet, um eine unabhängige Untersuchung zu veranlassen. Obwohl dieses Thema mit Unterstützung einiger Nationalräte auf die Tagesordnung des Schweizer Bundesrates gesetzt wurde, ist die Schweizer Regierung ihrer Verantwortung nicht nachgekommen. Sie hat die Verantwortung auf die OPCW abgeschoben.