EU-Verfassung: neoliberal und militaristisch

Während die Schweiz weiterhin ihren bilateralen Weg mit Europa beschreitet, gibt sich die Europäische Union eine eigene Verfassung. Aus sozial- und friedenspolitischer Sicht ist der Verfassungsentwurf höchst bedenklich.

Von Willy Spieler *

Die Diskussion um die EU-Verfassung tritt in die vorläufig letzte Runde. Nach der Einigung der Staats- und Regierungschefs über den Verfassungstext am 18. Juni 2004 steht der Ratifikationsprozess in den 25 EU-Mitgliedstaaten auf der Tagesordnung. Es ist höchste Zeit, dass auch Linke und Pazifist/innen in der Schweiz sich mit den wesentlichen Teilen dieses Entwurfs auseinandersetzen. Zwar war die EU noch nie ein linkes und pazifistisches Projekt, aber es kann auch kein linkes und pazifistisches Projekt sein, ihr fernbleiben zu wollen. Nur wer in der EU mit dabei ist, kann wirksam für ein demokratisches, soziales und friedliebendes Europa eintreten.

Mangel an demokratischer Legitimation

Die «Verfassung für Europa» hält nicht, was das Wort verspricht. Dazu hätte es einer verfassungsgebenden Versammlung bedurft, die demokratisch legitimiert gewesen wäre. Stattdessen hatte der Europäische Rat einen «Konvent» einberufen, der unter dem Vorsitz des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing einen 225 Seiten starken Verfassungsentwurf (mit Zusatzprotokollen) verabschiedete. Dieser glänzt mit wohlklingenden Grundwerten wie Freiheit, Gleichheit (!), soziale Gerechtigkeit und Solidarität, ja selbst mit einer Charta der Menschenrechte. Wo’s aber ums ökonomische Kerngeschäft geht, ist er an neoliberaler Ideologie nicht mehr zu überbieten.

Die Parlamente der EU-Staaten werden dem Entwurf zweifellos zustimmen; zumal die europäische Linke sich das Denken in Alternativen längst abgewöhnt hat. Da bleibt nur noch die Hoffnung auf massiv ablehnende Volksmehrheiten, wo immer der eigentliche «Souverän» entscheidet. Das ist in mindestens 10 Mitgliedstaaten vorgesehen (Belgien, Grossbritannien, Dänemark, Frankreich, Irland, Luxemburg, Niederlande, Portugal, Spanien und Tschechische Republik). Sollte die Verfassung auch nur von einem der EU-Völker abgelehnt werden, könnte Europa neu anfangen – mit einer demokratisch legitimierten Verfassung. Und mit einem Parlament, das mehr darf, als nur über Vorschläge der Kommission und des Ministerrates abstimmen, das auch die Kompetenzen hat, die Kommission als «seine Regierung» selbst zu wählen und eigene Gesetzesinitiativen zu ergreifen. Es ist ein demokratisch unerträgliches Ansinnen des Verfassungsentwurfs, dass er den – an ein Vollmachtenregime grenzenden – Vorrang der Exekutive(n) zur dauerhaften Einrichtung machen will.

Triumph des Neoliberalismus

Der Entwurf ist weit von den Prinzipien einer Sozialen Marktwirtschaft entfernt. Festgeschrieben wird hier vielmehr der Vorrang von Markt und Kapital gegenüber Gemeinwohl und Arbeit.

Den Primat des Marktes legt schon das «Unionsziel» eines «Binnenmarkts mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb» nahe. Zwar folgt die widersprüchliche Formulierung «einer in hohem Masse wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft» (I-3.2/3); im entscheidenden Kapitel «Wirtschafts- und Währungspolitik» gilt aber nur noch der «Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb» (III-69.1). Was der Neoliberalismus «Ordnungspolitik» nennt, bekommt damit europäischen Verfassungsrang. Darum verbietet der Entwurf die Förderung öffentlicher Unternehmen (III-55.1). Erst recht gilt die staatliche Rettung von Unternehmen, die sonst um der reinen Profitmaximierung willen ausgelagert, stillgelegt oder fusioniert würden, als «mit dem Binnenmarkt unvereinbar» (III-56).

Arbeitsrechtliche und soziale Belange verbleiben auf der nationalen Ebene, und das heisst: Sie werden dem zwischenstaatlichen «Abwärtswettbewerb» um möglichst niedrige Standards ausgesetzt. Einen besonderen Euphemismus leistet sich der Entwurf, wenn er von »dem eine Abstimmung der Sozialordnungen begünstigenden Wirken des Binnenmarktes» (III-103) ausgeht. Was hier «begünstigt» wird, ist nichts anderes als Sozialabbau durch Standortwettbewerb. Das zeigt auch die Steuerpolitik des Entwurfs, der nur die indirekten Steuern harmonisieren will (III-62), nicht aber die direkten Steuern, besonders die Unternehmenssteuern. Die Verfassung öffnet so dem Steuerdumping der Konzerne Tür und Tor. Das Nachsehen haben die staatlichen Einnahmen zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben. Den Rest besorgt der Sparzwang der vom sog. Stabilitätspakt von Maastricht ausgeht und vom Entwurf im Grundsatz übernommen wird (III-76).

Von einer sozialen Verpflichtung des Eigentums will der Entwurf nichts wissen. Die freie Entfaltung des Kapitals geniesst den besonderen Schutz der EU-Verfassung (II-17.1), von einem gleichwertigen Schutz der Arbeit ist nirgendwo die Rede. Als neues Grundrecht wird auch die «unternehmerische Freiheit» (II-16) eingeführt. Als ob Menschenrecht sein könnte, was ausschliesslich denen zukommt, die über Kapital und Produktionsmittel verfügen. Von einer Partizipation der Arbeitenden an dieser Freiheit über ein verbrieftes Mitbestimmungsrecht ist jedenfalls nicht die Rede. Der Entwurf kennt nur gerade das Recht der Arbeitenden auf «Unterrichtung und Anhörung» in den Unternehmen. «Arbeitskräfte» sind nichts weiter als «Produktionsfaktoren», die es durch «bestmöglichen Einsatz ? zu steigern» (III-123) gilt. Der alte Grundwiderspruch von Kapital und Arbeit lugt auch hinter der Festung Europa hervor, die dem Kapital die globale Freizügigkeit garantiert, nicht aber der Arbeit, sofern sie das Pech hat, von ausserhalb der EU zu kommen.

Grundsätze von Ökologie und Nachhaltigkeit suchen wir in dieser Verfassung umsonst. Die Nutzung der Atomenergie wird in einem der Zusatzprotokolle über die «Europäische Atomgemeinschaft» fortgeschrieben, so dass sich die Frage stellt, wie da ein Umstieg auf erneuerbare Energien noch möglich sein soll. Hinzu kommt der gravierende Demokratieverlust, wenn es um internationale Handelsverträge wie das umstrittene Dienstleistungsabkommen GATS geht; denn über sie wird künftig auf EU-Ebene und nicht mehr in den Parlamenten der Mitgliedsstaaten entschieden. Wer diesen Entwurf liest, muss sich fragen, was Wahlen in den einzelnen Ländern überhaupt noch verändern können.

Militarisierung als «Mission»

Die bedingungslose Liberalisierung des Welthandels verstärkt die Kluft zwischen Arm und Reich. Zur organisierten Friedlosigkeit, die auf diese Weise entsteht, gehört die Aufrüstung der Repressionsapparate in den Ländern der Reichen. Auch die EU setzt sich mit dieser Verfassung alles andere als die – nebenbei erwähnte (III-210.1) – Abrüstung zum Ziel. Mit Verfassungsrang wird nämlich das Gegenteil diktiert: «Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.» Ein «Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten» soll «den operativen Bedarf ermitteln», «Massnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Grundlagen des Verteidigungssektors» vorkehren und damit eine Kontrollaufgabe übernehmen (I-40.3).

Statt vorrangig zivile Mittel für die Friedenssicherung vorzusehen und Rüstungsexporte einzudämmen, sieht die EU-Verfassung weltweite «Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung» (III-210) vor. Die schon 1999 beschlossene Interventionstruppe mit 60 000 Wehrpflichtigen erhält eine verfassungsrechtliche Grundlage. Der Entwurf spricht von «Missionen». Ihr Mandat wird sehr weit gefasst: «Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet» (III-210). Da «Terrorismus» immer dann gegeben ist, wenn das Kapital seine vitalen Interessen für gefährdet hält, kann die EU überall auf der Welt eingreifen, auch in Bürgerkriegen – mit oder ohne UNO-Mandat. Von den «Grundsätzen» der UNO-Charta ist zwar die Rede (I-40.1), nicht aber von einer formellen Ermächtigung durch die zuständigen UNO-Organe.

Die EU folgt damit der Nato, die sich – in Anlehnung an die Bush-Doktrin – das Recht auf Präventivkriege durch Selbstmandatierung bereits zugesprochen hat. Überhaupt wird die Zusammenarbeit mit der Nato auf eine Art und Weise favorisiert (I-40.7), die zur Belastungsprobe für die offiziell noch neutralen Staaten innerhalb der EU – Finnland, Irland, Österreich, Schweden – werden könnte.

Die Entscheidungsgewalt soll beim (einstimmigen) EU-Ministerrat liegen: «Der Ministerrat kann zur Wahrung der Werte der Union und im Dienste ihrer Interessen eine Gruppe von Mitgliedsstaaten mit der Durchführung einer Mission im Rahmen der Union beauftragen» (I-40.5). Das Europäische Parlament hat einmal mehr nichts zu sagen. Seine Kompetenz reduziert sich auf «Anfragen oder Empfehlungen» (III-205.2). Die nationalen Parlamente, die – wie der deutsche Bundestag – bislang über den Einsatz ihrer Streitkräfte entscheiden konnten, werden entmachtet. Auch in der existentiellen Frage von Krieg und Frieden zeichnet sich ein europäisches Vollmachtenregime ab.


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* Willy Spieler ist Redaktor der Zeitschrift Neue Wege und ehemaliger Fraktionspräsident der SP im Kantonsrat Zürich. Sein Artikel ist die gekürzte und überarbeitete Fassung eines Artikels, der in Heft 5/2004 der Neuen Wege erschienen ist. Bestelladresse: W. Spieler, Butzenstrasse 27, 8038 Zürich, E-Mail: spieler@goldnet.ch

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