Kriegsdienstzwang – Wehrpflicht in Österreich

Gastartikel aus der Graswurzelrevolution

Nachdem es jahrelang so aussah, als ob die „Wehrpflicht“ in Europa bald der Geschichte
angehören würde, kehrte der militärische Zwangsdienst spätestens seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine vielerorts wieder in die politische Debatte Deutschlands und anderen europäischen Ländern zurück. Ein Blick nach Österreich.

von Daniel Jerke

Österreich ist eines der wenigen EU-Länder, das die „Wehrpflicht“ in den letzten Jahrzehnten nicht ausgesetzt oder abgeschafft hat. Zurzeit leisten ungefähr 7.000 junge Männer ihren sechsmonatigen „Grundwehrdienst“ beim Bundesheer ab. Über das ganze Jahr hinweg sind es circa 18.000 sogenannte Grundwehrdiener, die 16.000 Berufssoldaten und 30.000 Reservist*innen (darunter nur sehr wenige Frauen) ergänzen. Ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung existiert seit 1975. Weil die „Wehrpflicht“ von weiten Teilen der Bevölkerung akzeptiert wurde und auch alle wichtigen politischen Akteur:innen sie unterstützten, blieb die Zahl der Verweigerer lange überschaubar. Das hat sich jedoch in den letzten Jahren geändert: Der Anteil der sogenannten Zivildiener an einem Geburtenjahrgang liegt mittlerweile bei um die vierzig Prozent. 2022 waren das über 14.000 Personen, wodurch der Zivildienst zu einem wichtigen Faktor des österreichischen Sozialwesens geworden ist.


Allerdings ist das Recht auf Kriegsdienstverweigerung weiterhin sehr eingeschränkt: So muss der Antrag auf Verweigerung innerhalb einer bestimmten Frist gestellt werden. Eine Verweigerung nach Antritt des Kriegsdienstes ist nicht möglich. Darüber hinaus ist der „Ersatzdienst“ drei Monate länger als der Kriegsdienst. Ebenso ist die Vergütung für Grundwehr- und Zivildienst auf dem Papier zwar dieselbe, aber in der Praxis sind die Zivildiener materiell häufig schlechter gestellt, unter anderem weil für den Zivildienst ein Umzug notwendig sein kann, wenn es im Herkunftsort keine freie Stelle gibt. Diese Punkte haben Österreich auch immer wieder Kritik internationaler Organisationen eingebracht, wie 1997 von Amnesty International und 2015 vom Internationalen Versöhnungsbund. Allerdings kommt es inzwischen viel häufiger vor, als untauglich eingeschätzt zu werden, wodurch auch der Zivildienst entfällt. Zuletzt lag der Anteil der Untauglichen bei ungefähr einem Viertel pro Jahrgang. Für viele junge Männer gibt es also Möglichkeiten, dem Kriegsdienst relativ unkompliziert zu entgehen, was wiederum Druck aus dem System nimmt. Darüber hinaus wird die Konfrontation mit dem Staatsapparat aber auch aus politischen Gründen vermieden, weil es keine breite gesellschaftliche Bewegung gegen den Zwangsdienst gibt. Das wurde bei der Volksbefragung zur „Wehrpflicht“ vor zehn Jahren deutlich.


Vor dem Hintergrund der Aussetzung der „Wehrpflicht“ in Deutschland und Schweden und um von der eigenen Ideenlosigkeit angesichts der Eurokrise abzulenken, setzte die sozialdemokratisch-konservative Regierung am 20. Januar 2013 eine landesweite Volksbefragung an. Auch wenn das Ergebnis nicht rechtlich bindend war, versprach die Regierung, das Ergebnis zu respektieren. Auf dem Stimmzettel konnte zwischen zwei Optionen gewählt werden: „Sind Sie für die Einführung eines Berufsheeres und eines bezahlten freiwilligen Sozialjahres?“ oder „Sind Sie für die Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht und des Zivildienstes?“. Bereits die Formulierungen lassen erahnen, dass es damals mindestens genauso viel um den Zivildienst wie um die „Wehrpflicht“ ging. Mit 59,7 % sprach sich schließlich eine Mehrheit (bei einer Wahlbeteiligung von 52,4 %) für die Beibehaltung der „Wehrpflicht“ aus. Die Süddeutsche Zeitung kommentierte treffend: „Die ÖVP […] hat die Angst verbreitet, dass mit einer Abschaffung von „Wehrpflicht“ und Zivildienst der Rettungswagen in Zukunft zu spät kommt und niemand mehr bei Hochwasser hilft.“ 


Radikale linke, pazifistische und antimilitaristische Personen und Gruppen stellte die Befragung hingegen vor ein Dilemma. Zwar wurde die Regierung von verschiedenen pazifistisch-antimilitaristischen Gruppen dafür kritisiert, die Frage nach der Abschaffung des Bundesheeres bewusst umgangen zu haben, doch darüber hinaus gelang es nicht, sich auf ein einheitliches und entschiedenes Vorgehen zu einigen. Angesichts von nur zwei Optionen auf dem Stimmzettel, tendierten viele Personen aus diesem Milieu dazu, in der „Wehrpflicht“ das „kleinere Übel“ zu sehen, da ein Berufsheer als großer Schritt in Richtung NATO-Beitritt und Beteiligung an Angriffskriegen wahrgenommen wurde. Zu dieser Befürchtung hatte der Vorsitzende des Komitees für ein Ende der Wehrpflicht, Hannes Androsch, beigetragen, der ein Berufsheer unter anderem für die „Sicherung von Rohstoff- und Energiequellen“ im Ausland einsetzen wollte. Besonders deutlich wurde diese Zerrissenheit an den widersprüchlichen Empfehlungen der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ). Während deren Bundesvorstand dazu aufrief, ungültig zu stimmen und „Bundesheer abschaffen“ auf den Stimmzettel zu schreiben, widersprach der wichtigste Landesverband öffentlich. Eine Abschaffung des Bundesheeres würde einerseits dem Aufbau einer EU-Armee Vorschub leisten und andererseits zur Aufrüstung der Polizei führen. Daher sei eine Stimme für die „Wehrpflicht“ eine Stimme für die Neutralität und „gegen die weitere Unterwerfung unseres Landes gegenüber der EU“. Letztendlich hat das Votum für die „Wehrpflicht“ die Aushöhlung der Neutralität auch nicht aufgehalten. Stattdessen haben die internen Meinungsverschiedenheiten dazu beigetragen, dass linke und pazifistische Gruppen das Thema „Wehrpflicht“ eher meiden. Das lässt sich zum Beispiel daran ablesen, dass aktuell auf der Internetseite der KPÖ zwar eine „aktive Friedens- und Neutralitätspolitik“ gefordert, aber keine eindeutige Stellung zu Bundesheer und „Wehrpflicht“ bezogen wird. Auch das seit 2019 existierende „Aktionsbündnis für Frieden, aktive Neutralität und Gewaltfreiheit“, das immerhin vierzig Organisationen umfasst, formuliert keine eindeutige Position zu diesem Thema, weil ihre Mitgliedsorganisationen dazu verschiedene Ansichten haben. Wer nun auf die Begrifflichkeiten geachtet hat, wird sich zurecht fragen, was es aber nun mit dieser Neutralität auf sich hat.


In Österreich ist die Idee der „immerwährenden Neutralität“ ein zentraler Begriff der politischen Debatten. Sie war 1955 nach Ende der Besatzungszeit in Form eines Gesetzes erklärt worden und Grundlage der Bündnisfreiheit des Landes im Kalten Krieg. Darüber hinaus war jedoch von Anfang an unklar, was die Neutralität nun praktisch bedeutete. Das ist bis heute so geblieben. So verkaufen österreichische Rüstungsunternehmen (z. B. Glock oder Steyr Arms) schon immer gerne ihre Produkte in alle Welt. Trotz Neutralität arbeitet Österreich seit 1994 offiziell mit der NATO zusammen. Das Bundesheer ist ebenso in die militärischen Strukturen der EU eingebunden (Battle Groups, PESCO) und auch dazu verpflichtet, einem anderen Mitglied, das angegriffen wird, militärisch beizustehen. Trotzdem beziehen sich immer noch fast alle politischen Akteur*innen positiv auf die Neutralität, weil der Begriff mittlerweile derart nichtssagend geworden ist, dass jede politische Kraft es mit ihren jeweiligen Vorstellungen vereinbaren kann. 

Inzwischen finden auch in Österreich autoritäre und militaristische Vorstellungen wieder mehr Anklang. Unmittelbar nach Beginn des Ukraine-Krieges forderten SPÖ und FPÖ den Kriegsdienst um zwei Monate zu verlängern. Dieser Vorschlag scheiterte zwar vorläufig am Widerstand der Grünen in der Regierung, aber bei der Aufrüstung waren sich wieder alle einig. So ist geplant, das Militärbudget in den nächsten Jahren auf 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen und eine Mehrheit der Bevölkerung heißt das (trotz einer Rekordinflation) auch noch gut, denn auch in Österreich ist die wirre Behauptung verbreitet, das Bundesheer sei „kaputt gespart“ worden. Dabei ist das Militärbudget in den vergangenen Jahren bereits kräftig gesteigert worden, unabhängig davon, wer gerade im Kriegsministerium am Ruder war. Und seit der Volksbefragung waren das immerhin sechs Männer und eine Frau aus drei verschiedenen Parteien sowie zwei ohne Parteizugehörigkeit. Des Weiteren existiert seit dem 1. April ein „freiwilliger Grundwehrdienst“ für Frauen, denn das Bundesheer versucht mit seiner Propaganda zunehmend auch Frauen zu erreichen. 2021 sprach sich sogar schon eine Mehrheit der Bevölkerung für eine Ausweitung der „Wehrpflicht“ auf Frauen aus. Ebenso wird versucht, den Anteil der Kriegsdienstleistenden zu steigern. Zum Beispiel wurden vor zwei Jahren die Kriterien für eine Untauglichkeit verschärft, wovon einige hundert Männer betroffen waren. Nennenswerten Widerstand dagegen gab es nicht, weil auch die Zivildienstorganisationen von dieser Entscheidung profitierten. Das Beispiel Österreich zeigt, dass es unabdingbar ist, eine eigenständige linke friedenspolitische und antimilitaristische Position zu formulieren und offensiv zu vertreten, um sich nicht zwischen zwei vom Mainstream präsentierten Optionen aufzureiben.

Der Artikel erschien in einer längeren Version am 4. Mai 2023 in der deutschen, anarchistischen Zeitschrift “Graswurzelrevolution”. Der Autor dankt all seinen Gesprächspartner*innen für ihre Hilfe bei der Entstehung dieses Beitrags.