Meinungsbildung entlang Landesgrenzen

Russland genauso wie China und andere Unrechtsstaaten setzt alles daran, die politische Meinungsbildung auch im Internet einschränken zu können. Die bürgerlichen Eliten schauen tatenlos zu, fordern ähnliche Machtinstrumente für sich selbst und kürzen die Förderung unabhängiger Medien.

Es ist einfach, mit dem Finger auf Russland zu zeigen und sich über die vergleichsweise gesunde Presselandschaft in der Schweiz zu freuen. Die letzten unabhängigen Medien in Russland wurden geschlossen. Der Zugriff auf ausländische Plattformen und Medien ist teils offen gesperrt, teils gedrosselt: Die Drosselung der Geschwindigkeit ist ein schlauer Trick, da niemand ganz offensichtlich Schuld ist und es den Menschen auf weniger offensichtliche Art die Lust nimmt, diese Webseiten und Dienste zu verwenden. Aber dass ein Grossteil der Schweizer Medien und der westlichen Medien allgemein uns relativ genau über den Konflikt informiert ist Glückssache: Hier ist der alte Feind im Osten tatsächlich der Aggressor, der Krieg läuft für Putin schlecht. Kein Grund also, etwas zu vertuschen oder falsch darzustellen. Die Meinungsbildung in der Schweiz ist aber genau wie in Russland stark von Institutionen und Akteuren abhängig, die voll und ganz im Machtbereich des Nationalstaates liegen.

In der Schweiz ist der staatliche Einfluss oft von Vorteil: Bei Verleumdung, Drohungen, Aufruf zu Gewalt und ähnlichem kann der Rechtsstaat eingreifen. Ausserdem kann man die sozialen Medien als gescheitertes Experiment von vollständiger Redefreiheit betrachten: Um Hassrede und Falschinformationen zu bekämpfen, sahen sich alle grossen Plattformen gezwungen, ganze Scharen von Zensoren einzustellen.

Das Internet allgemein und auch die sozialen Medien im Speziellen fallen nicht in dieses Raster und haben das Potenzial, die Meinungsbildung vom Einfluss des Staates zu befreien – im Guten wie im Schlechten. Was den Ukrainekrieg betrifft, scheint der Effekt hauptsächlich eine Durchmischung zu sein: Junge Menschen in der Schweiz sympathisieren unabhängig der politischen Ausrichtung eher mit Putin und sehen ihn nicht als den Kriegsverbrecher, der er ist. Das kann wohl auf gezielte Propagandamassnahmen Putins zurückgeführt werden, die auf Social Media auch die Schweiz erreichen. Häufige Social Media Nutzer*innen in Russland haben eher Zweifel an Putins «militärischer Spezialoperation», wobei die Situation in Russland schwierig unabhängig einzuschätzen ist.

Dass viele bisherige Social Media Plattformen ohne zentrale Kontrolle keinen gesunden politischen Diskurs fördern ist aber kein Argument dafür, dass das unmöglich sei. Dass es technisch möglich wäre, solche Netzwerke dezentraler und damit resistenter gegen Zwangsmassnahmen zu machen, steht ausser Frage. Deswegen ist es für die globale Demokratieförderung zentral, zumindest zu versuchen, unsere demokratische Kultur auf eine Art und Weise zu digitalisieren, die es ihr erlaubt, sich unabhängig von Landesgrenzen auszubreiten.

Leider gibt es nur wenige politische Anstrengungen, um die Chance der neuen Medien zu nutzen. Man müsste Technologien fördern, die politischen Diskurs im Internet vor staatlichen und privaten Machthabern schützen. Man müsste Technologien fördern, die intrinsisch demokratisch sind anstatt auf die Maximierung von Werbeeinnahmen ausgelegt. Stattdessen fordern Bürgerliche immer neue Fähigkeiten für den Überwachungsstaat und Linke scheinen oft damit zufrieden zu sein, wenn die privaten Besitzer und absoluten Herrscher über ihre Internetplattformen zumindest in der Schweiz Steuern bezahlen müssen.