Newsletter Ukraine 34

Liebe Leser*innen

Wir starten diesen Newsletter mit einem kurzen Exkurs zum aktuellen Geschehen in der Ukraine. Dann folgt ein Interview mit zwei russischen Aktivist*innen über ihr Engagement beim unabhängigen Online-Magazin DOXA. Das Gespräch mit diesen zwei mutigen und starken Menschen hat uns sehr berührt. Wir wollen es Ihnen deshalb nicht vorenthalten.  

Dammbruch Kachowka: Die Kämpfe in der Ukraine werden unerbittlich geführt. Nicht selten wird hierbei sogenannte “kritische Infrastruktur” in Mitleidenschaft gezogen. So etwa der Kachowka-Staudamm östlich von Cherson, der nach einem Angriff zerstört wurde. Die Folgen: Überschwemmungen der umliegenden Gebiete und Städte (bis zu 600 Quadratkilometer unter Wasser!), was für viele Menschen riesige Verluste und unvorstellbares Leid bedeutet. Unzählige Menschen haben dabei ihr Zuhause verloren. Dass Russland für den Dammbruch die Verantwortung trägt, ist derzeit die wahrscheinlichste These. Mittelfristig droht aufgrund der zerstörten Feldern ein Nahrungsmittelengpass, und bereits jetzt erweist sich der Zugang zu sauberem Trinkwasser als schwierig. Die Bilder, die rund um das Ereignis entstanden, sind erdrückend. Das Ausmass der humanitären Katastrophe wird auf den vorher/nachher-Satellitenbildern ersichtlich. 

Gruppe Wagner: Im Moment, in dem dieser Newsletter eintrifft, kann noch keine definitive Analyse getroffen werden. Doch die Szenerie am vergangenen Wochenende war folgende: Die russische Privatarmee Wagner, die seit Kriegsbeginn eine Schlüsselrolle im Angriffskrieg Russlands spielte, marschierte in der Nacht vom 23. auf den 24. Juni in Richtung Moskau. Nach wochenlangen Drohungen und scharfer Kritik des Wagner-Anführers Jewgenij Prigoschin, drohte eine innerrussische Eskalation zwischen dem Machthaber Putin und seinem langjährigen Freund Prigoschin. Der konkrete Vorwurf Prigoschins lautete unter anderem: Der Erfolg der russischen «Operation» in der Ukraine bleibe vermehrt aus und zu viele russische Kämpfer würden sterben. Der bewaffnete Zug der Gruppe Wagner startete am vergangenen Samstag in Rostow am Don und bewegte sich zügig Richtung Moskau. Doch  zum Aufeinandertreffen kam es nicht. Angeblich stoppte der Zug nach Vermittlung des Belarussischen Autokraten Lukaschenko .Prigoschin ist nun auf dem Weg ins belarussische Exil und die erwartete militärische Eskalation blieb aus. Die Gruppe Wagner steht vor einer ungewissen Zukunft – es droht Ungemach.

Die Situation macht betroffen und ratlos, sie verleiht einem einmal mehr ein Gefühl von Machtlosigkeit. Die Situation ist schwer einzuordnen, zumal die Gruppe Wagner faschistoide Menschenrechtsverbrechen in verschiedenen Konfliktregionen, zuletzt vermehrt auch in Mali und Syrien, beging. Eine innerrussische Revolution für eine gewaltfreie Zukunft hätte man sich anders vorgestellt. Sie zeigt jedoch auch, dass der russische Machtapparat zu bröckeln scheint. Trotz alledem oder gerade deshalb gibt es auch in Russland mutige Menschen, die sich Putin oder Prigoschin widersetzen; die russische Opposition lebt trotz massiver Repression weiter. Im Rahmen eines Zeitungsartikels für die  GSoA-Zeitung hatten wir die Möglichkeit, mit zwei russischen Aktivist*innen der Opposition zu sprechen 

Das von Student*innen gegründete Magazin DOXA wurde in den letzten Monaten zu einer journalistischen Widerstandsbastion. DOXA trotzt der Desinformationskampagne des Kreml und der Zensur der Presse und veröffentlicht Texte gegen den Krieg, die Diktatur und soziale Ungleichheit. Im Gespräch diskutieren Maria Menshikova, zurzeit Doktorandin in Deutschland und Redaktorin von DOXA, und S.*, ehemaliger Redaktor von DOXA, die aktuelle Situation der russischen Opposition. 

Ein Interview von Anja Gada

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Wie ist die russische Opposition derzeit organisiert?

S: Im Moment gibt es keine vereinte Opposition. Ein Teil der Aktivist*innen befinden sich in Russland selbst, gegen viele läuft jedoch ein Strafverfahren,  weshalb viele auch im Ausland sind. Natürlich gibt es verschiedene Aktionsformen und deswegen auch Uneinigkeit. Manche, wie wir, sind journalistisch tätig und machen gewaltfreies Campaigning, andere sabotieren aktiv die Kriegsmaschinerie. Die juristische Verfolgung von Aktivist*innen hat jedoch schon vor dem Krieg angefangen. Zu der Zeit, als die Fussball-Weltmeisterschaft stattgefunden hatte, wurde versucht, Rechtsdelikte zu fabrizieren und diesen Aktivist*innen anzuhängen.

M: Schon 2018 gab es so starke Repression, dass Leute bis zu 18 Jahre Gefängnisstrafe erhielten. Ich habe das Gefühl, dass damals versucht wurde, Angst zu schüren und alle kritischen Stimmen auszulöschen, bevor der Angriffskrieg startete.  

Spürt ihr Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft? 

S: Kaum. Frankreich zum Beispiel hat militärische Güter und Polizei-Ausrüstung bis letztes Jahr an den Kreml geliefert. Dass westliche Staaten russisches Öl und Gas gekauft haben, bedeutete auch eine Unterstützung Putins. Bis letztes Jahr gab es kaum harte Sanktionen gegen Russland. Zudem sind viele in Kraft getretene Sanktionen nicht effektiv oder sogar schädlich, da westliche Regierungen und private Akteur*innen keine gemeinsame Vision zu haben scheinen, was sie sich von den Sanktionen erhoffen. Essentiell wäre es, Oligarchenvermögen einzufrieren und die Waffenlieferungen nach Russland zu stoppen. Diesbezüglich müsste mehr gemacht werden. 

Sanktionen werden oftmals kritisiert, weil sie auch die Bevölkerung treffen können. Wie sieht die Situation in Russland derzeit aus?

M: Russ*innen sind sich Inflation gewöhnt. Ich glaube bis jetzt gab es keinen ökonomischen Kollaps, weil «fähige» Leute in der russischen Regierung sitzen. Ausserdem unterstützt der russische Staat sehr arme Menschen massiv, um sie vor der kompletten Verelendung zu bewahren. Grundsätzlich haben Sanktionen jedoch ihre Grenzen. Wegen der globalisierten Handelswege können Sanktionen nun über andere Länder umgangen werden.

Was müsste passieren, um die Autokratie Putins zu beenden? 

S: Es braucht eine signifikante militärische Niederlage. Dann muss sich die russische Bevölkerung organisieren, um das Regime zu stürzen. Putin ist ein Imperialist. Auch wenn ich das nicht gerne sage: Wenn wir ihn jetzt nicht stoppen, wird er einfach weitermachen. 

M: Ich frage mich das täglich. Für mich ist es wichtig, existierende Strukturen wie Bücherläden, Tierheime, kooperative und unabhängige Cafés und Bürger*innen-Initiativen zu unterstützen. So lernen die Menschen sich zu organisieren, auch wenn es nicht in einem politischen Kontext stattfindet. Es braucht kollektive Handlung und eine Bewegung von unten, von allen Lebensbereichen. 

*Name ist dieser Zeitung bekannt.

Das vollständige Interview finden Sie unter https://gsoa.ch/wenn-wir-ihn-jetzt-nicht-stoppen-wird-er-einfach-weitermachen/ 

Pazifistische Grüsse

Joris Fricker, GSoA-Sekretär 

PS: Die GSoA-Zeitung erscheint viermal im Jahr. Die Ausgabe Nummer 194 erschien letzte Woche und ist auch online einsehbar. Ein analoges Zeitungsabo kostet 20.- im Jahr, in einer Mitgliedschaft ist die Zeitung natürlich ebenfalls inbegriffen.

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