“Wenn wir ihn jetzt nicht stoppen, wird er weitermachen.”

Das von Student*innen gegründete Magazin DOXA wurde in den letzten Monaten zu einer journalistischen Widerstandsbastion. DOXA trotzt der Desinformationskampagne des Kreml und der Zensur der Presse und veröffentlicht Texte gegen den Krieg, die Diktatur und soziale Ungleichheit. Im Gespräch diskutieren Maria Menshikova, zurzeit Doktorandin in Deutschland und Redaktorin von DOXA, und S.*, ehemaliger Redaktor von DOXA, die aktuelle Situation der russischen Opposition. 

Ein Interview von Anja Gada

Wie ist die russische Opposition derzeit organisiert?

S: Im Moment gibt es keine vereinte Opposition. Ein Teil der Aktivist*innen befinden sich in Russland selbst, gegen viele läuft jedoch ein Strafverfahren,  weshalb viele auch im Ausland sind. Natürlich gibt es verschiedene Aktionsformen und deswegen auch Uneinigkeit. Manche, wie wir, sind journalistisch tätig und machen gewaltfreies Campaigning, andere sabotieren aktiv die Kriegsmaschinerie. Die juristische Verfolgung von Aktivist*innen hat jedoch schon vor dem Krieg angefangen. Zu der Zeit, als die Fussball-Weltmeisterschaft stattgefunden hatte, wurde versucht, Rechtsdelikte zu fabrizieren und diesen Aktivist*innen anzuhängen.

M: Schon 2018 gab es so starke Repression, dass Leute bis zu 18 Jahre Gefängnisstrafe erhielten. Ich habe das Gefühl, dass damals versucht wurde, Angst zu schüren und alle kritischen Stimmen auszulöschen, bevor der Angriffskrieg startete.  


Repression gegen russische Regimekritiker*innen

Laut dem unabhängigen russischen Medienportal Mediazona sind seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine 94 Brandanschläge auf militärische Rekrutierungszentren ausgeübt worden und Schätzungen zufolge bis zu 300 Sabotageakte auf Bahninfrastruktur durchgeführt worden. Fast 20’000 Personen wurden in Russland an Anti-Kriegsdemonstrationen festgenommen, gegen 537 Menschen läuft ein Strafverfahren im Zusammenhang mit Antikriegsaktionen, 32 Personen wurden gefoltert. Vor wenigen Wochen wurde auch gegen Maria ein Strafverfahren wegen “öffentlichen Aufrufs zu Terrorismus” eröffnet. Würde sie in ihr Heimatland zurückkehren, könnten ihr bis zu fünf Jahre Gefängnisstrafe drohen.


Spürt ihr Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft? 

S: Kaum. Frankreich zum Beispiel hat militärische Güter und Polizei-Ausrüstung bis letztes Jahr an den Kreml geliefert. Dass westliche Staaten russisches Öl und Gas gekauft haben, bedeutete auch eine Unterstützung Putins. Bis letztes Jahr gab es kaum harte Sanktionen gegen Russland. Zudem sind viele in Kraft getretene Sanktionen nicht effektiv oder sogar schädlich, da westliche Regierungen und private Akteur*innen keine gemeinsame Vision zu haben scheinen, was sie sich von den Sanktionen erhoffen. Essentiell wäre es, Oligarchenvermögen einzufrieren und die Waffenlieferungen nach Russland zu stoppen. Diesbezüglich müsste mehr gemacht werden. 

Sanktionen werden oftmals kritisiert, weil sie auch die Bevölkerung treffen können. Wie sieht die Situation in Russland derzeit aus?

M: Russ*innen sind sich Inflation gewöhnt. Ich glaube bis jetzt gab es keinen ökonomischen Kollaps, weil «fähige» Leute in der russischen Regierung sitzen. Ausserdem unterstützt der russische Staat sehr arme Menschen massiv, um sie vor der kompletten Verelendung zu bewahren. Grundsätzlich haben Sanktionen jedoch ihre Grenzen. Wegen der globalisierten Handelswege können Sanktionen nun über andere Länder umgangen werden.

Was müsste passieren, um die Autokratie Putins zu beenden? 

S: Es braucht eine signifikante militärische Niederlage. Dann muss sich die russische Bevölkerung organisieren, um das Regime zu stürzen. Putin ist ein Imperialist. Auch wenn ich das nicht gerne sage: Wenn wir ihn jetzt nicht stoppen, wird er einfach weitermachen. 

M: Ich frage mich das täglich. Für mich ist es wichtig, existierende Strukturen wie Bücherläden, Tierheime, kooperative und unabhängige Cafés und Bürger*innen-Initiativen zu unterstützen. So lernen die Menschen sich zu organisieren, auch wenn es nicht in einem politischen Kontext stattfindet. Es braucht kollektive Handlung und eine Bewegung von unten, von allen Lebensbereichen. 

Wie könnten demokratische Staaten die russische Opposition diesbezüglich unterstützen?

M: Man könnte Aktivist*innen helfen, indem eigene Erfahrungen geteilt werden, zum Beispiel mit inoffiziellen Workshops. Ausserdem brauchen unabhängige Medien Unterstützung. Zudem sollten direkt gefährdete Personen mit Visa und einer Form von Stipendien ausgestattet werden, damit russische Aktivist*innen ausserhalb des Landes in Sicherheit ihre Arbeit fortführen können. 

Ihr habt beide im Onlinemagazin DOXA Texte veröffentlicht. Das ist eine Aktivismusform, die derzeit alles andere als ungefährlich ist.

M: Ja, ich wurde in Russland angeklagt wegen eines Artikels und würde verhaftet werden bei einer Einreise ins Land.

S: Es ist im Moment eine der einfachsten Methoden, Russ*innen zu erreichen und wahre Geschichten zu erzählen. Vor allem auch Student*innen erhalten so eine politische Bildung, nicht nur über den Krieg, sondern auch über Gleichstellungsthemen, LGBTQ-Rechte, die Klimakrise etc. Seit dem Kriegsausbruch hat sich bei DOXA  viel geändert. Es geht vielmehr um den Krieg an sich und vor allem auch die Dekolonialisierung, die derzeit breit in der Opposition diskutiert wird. 

M: Was wichtig ist: DOXA ist kein “objektives Medium”, das möglichst neutral zu berichten versucht, sondern eine Zeitung, die eine linke, feministische und LGBTQ-freundliche Perspektive bietet. 

Wie viele Leute erreicht DOXA?

M: Wir haben über 100’000 Followers auf Instagram und 50’000 Abonnent*innen auf Telegram. Wie viele Leute unsere Webseite anschauen, ist schwierig zu sagen, weil wir verschiedene Mirror-Sites (Exakte Kopien von Webseiten mit verschiedenen Links) verwenden und die Zensur in Russland die Daten verkompliziert.

S: Die Original-Webseite und Social Media sind in Russland blockiert, mit einem VPN und durch die Mirror-Sites haben Leute jedoch immer noch Zugang zu unseren Inhalten. Wie viele das genau sind, ist jedoch schwierig zu sagen.

Was hat für euch als Aktivist*innen Priorität in den nächsten Monaten?

M: Für mich ist es wichtig, mein Engagement bei DOXA weiterzuführen. Ich glaube daran, dass unsere Texte in Russland wichtig sind. Ausserdem helfe ich Geflüchteten hier in Deutschland bei Übersetzungen und administrativen Aufgaben. Auch die öffentlichen Diskussionen mit europäischen Gesellschaften und Russ*innen ist extrem relevant. Vielleicht gelingt es uns, einen Gesinnungswechsel herbeizuführen, der dazu führt, dass die Ukraine massiv mehr unterstützt wird. 

S: Wir beide kommen gerade von der 1.Mai-Demonstration in Berlin, wo wir ein Zeichen setzen wollten, dass auch Russ*innen hinter der Ukraine stehen. Es geht darum, Demokratien weltweit zu schützen. Nicht nur in der Ukraine oder Russland, sondern überall. Der Imperialismus muss besiegt werden.

*Vollständiger Name ist dieser Zeitung bekannt.