Der Krieg gegen den Irak hat eine Kaskade von Katastrophen zur Folge.
Der britische Chilcot-Report zum Irakkrieg vom vergangenen Juli rief – von offizieller Seite – in Erinnerung, was uns GegnerInnen dieser Invasion bekannt war: 150’000 Todesopfer, grossmehrheitlich irakische ZivilistInnen, die Entwurzelung von einer Million Menschen im Irak, Verwerfungen im ganzen Nahen Osten. Der Krieg, der auf den grotesken Lügen baute, Saddam Hussein verfüge über Massenvernichtungswaffen und sei mit Al Kaida verbunden, hatte zur Folge, dass die Ultraislamisten sich überhaupt im Irak verwurzeln konnten. Viele säkular-nationalistische Kader, die wegen der Auflösung der sunnitisch beherrschten Partei und Armee ihre Existenz verloren, landeten beim Islamischen Staat. Die ganze Tragödie, die der Irakkrieg verursachte, wirkt umso absurder, da Hussein die Produktionsanlagen und Grundstoffe für die Entwicklung von atomaren und chemischen Waffen von Deutschland und den USA, die Kampfflugzeuge und Panzer von Frankreich und Grossbritannien in den 1980er Jahren erhalten hatte. Die Stanser Pilatuswerke hatten dem irakischen Tyrannen jene PC-7-«Trainingsflugzeuge» geliefert, mit denen dieser im März 1988 im kurdischen Halabja zwischen 4000 und 5000 Menschen mit Giftgas umbrachte.
Syrische Opfer
Besonders schlimm sind die Auswirkungen des Irakkriegs in Syrien. Als die Oppositionsbewegung 2011 entstand, war sie friedlich und überkonfessionell. Danach wurde eine Reihe von Faktoren wirksam, die eine Folge des Irakkriegs sind und auf die das Assad-Regime gezielt gesetzt hat. Dieses wusste, dass es mit scharfer Repression die Militarisierung und die Konfessionalisierung des Widerstandes provoziert, und dass dieser Umstand es der Al Kaida ermöglicht, in den Bürgerkrieg einzugreifen und in der sunnitischen Opposition die Vorherrschaft zu erobern. Die sunnitischen Araber, welche in Syrien die Mehrheit stellen und vom Alewiten Assad mit Unterstützung des schiitischen Iran besonders hart unterdrückt wurden, waren die Hauptverlierer des Irakkrieges. Vor diesem Hintergrund hatte es der aus der Al Kaida entstandene «Islamische Staat des Iraks und Syriens» (Daesh) leicht, sich auszubreiten und ein eigenes Schreckens-Regime zu errichten.
Diese Konstellation wiederum erlaubte es Assad wie auch seinem Spiessgesellen Putin, als Vorkämpfer gegen den islamistischen Terrorismus zu erscheinen. Dabei hat Assad Daesh geschont und sich auf die gemässigtere Opposition, insbesondere die in Aleppo, konzentriert. Und Putin unterstützt ihn dabei. Ohne den Irakkrieg hätten die beiden Tyrannen gar nicht die Möglichkeit gehabt, ihren Krieg zugunsten des Überlebens der syrischen Diktatur politisch mit der Existenz des Islamischen Staates zu «begründen».
Libyen, Jemen, Nigeria
Der im Irak – unter anderem unter Mithilfe ehemaliger Armee-Kader – stark gewordene Islamische Staat griff weiter in Libyen ein. Eine seiner Hochburgen ist das weitgehend zerstörte Sirte, eine Hafenstadt zwischen den ohnehin zerstrittenen Städten Tripoli und Bengasi. Das erschwert die Schaffung eines nachhaltigen Friedens zusätzlich. Auch im Jemen, das historisch stärker durch Stammes-, als durch Glaubens-Fragen gespalten war, hat Al Kaida systematisch die konfessionellen Spannungen angeheizt. Mit einem Blutbad im August 2014 unter Anhängern der Huthi-Partei erreichte sie, dass sich diese eine politisch-schiitische und ihre Gegner, die Islah- Partei, eine sunnitische Identität zulegten. Die saudischen Luftangriffe gegen die schiitische Zivilbevölkerung heizen den Konflikt zusätzlich an. Dass Saudi-Arabien sich derart aggressiv gebärdet, ist nicht zuletzt eine Folge der massiven Stärkung des Irans durch den Irakkrieg. Dessen politischen Hauptprofiteure sind die schiitischen Extremisten, welche die Sunniten systematisch ausgegrenzt haben. Aus den weiteren Beispielen von Al Kaida- Ablegern und -nachahmern sei noch Boko Haram in Nigeria erwähnt. Der 2010 gegründete ultraislamistische Kampfbund versuchte 2014 nach dem Vorbild des «Islamischen Staates» seine Herrschaft zu territorialisieren. Allerdings scheiterte seine Offensive, die nach Kamerun, Tschad und Niger hineinreichte.
Terror in Europa
Eine Folge der Al Kaida, des Islamischen Staates und damit des Irakkriegs ist die Radikalisierung islamischer und nichtislamischer Jugendlicher in Westeuropa. Für die schrecklichen Attentate der letzten Jahre tragen die westlichen Kriegsgurgeln, allen voran Bush, Blair und Aznar, eine grosse Verantwortung. Dabei dürfen wir nie vergessen, dass neunzig Prozent der Opfer des islamistischen Terrorismus MuslimInnen sind. Die erwähnten Herren haben mit ihrer verlogenen Invasion in den Irak zur weltweiten Radikalisierung junger Sunniten beigetragen und damit die muslimische Welt mit einer zusätzlichen Hypothek belastet. Nicht unerwähnt bleiben darf die verhängnisvolle Rolle der Sowjetunion und Russlands. Die stalinistische Invasion nach Afghanistan 1979 hat überhaupt zur Gründung der – anfänglich von den USA unterstützten – Al Kaida geführt. Und wenn an vielen Fronten tschetschenische Kämpfer eine wichtige Rolle spielen, ist das eine Folge von Putins Tschetschenienkrieg. Die Waffenbrüderschaft des russischen Präsidenten mit dem syrischen Kriegsverbrecher Assad führt ebenfalls viele jungen Sunniten in eine verhängnisvolle Verzweiflung. Bezeichnend ist, dass Putin ideologisch an Bush anschliesst. Dieser hatte die Invasion in den Irak als «Kreuzzug» bezeichnet. Auch Putin greift immer mehr in die Mottenkiste namens «Verteidigung der christlichen Zivilisation».
Mehr Rüstung, weniger Rechte
Weltweit haben sich die Rüstungsausgaben zwischen 2003 und 2015 praktisch verdoppelt – auf 1700 Milliarden Dollar. Ein Drittel davon fällt auf die USA. Am stärksten gestiegen sind sie in Saudi-Arabien, das pro Kopf der Bevölkerung am meisten ausgibt. Massiv zugenommen haben die Ausgaben für private Militärfirmen. Allein die USA geben für sie jährlich gegen 100 Milliarden Dollar aus. Söldner haben für die Kriegsherren zwei Vorteile: Erstens haben ihre Verbrechen nicht die gleichen nachteiligen Folgen wie die von Soldaten. Und zweitens sind tote Söldner politisch viel weniger belastend. Eine weitere negative Entwicklung seit dem Irakkrieg ist der Einsatz bewaffneter Drohnen, der von US-Präsident Obama gezielt gefördert
wurde. Laut der Studie «Living under Drones» der Universitäten Stanford und New York wurden allein in Pakistan zwischen Juni 2004 und September 2012 zwischen 2500 und 3300 Men- schen durch Drohnen getötet. Davon waren geschätzte 500 bis 900 ZivilistInnen, 176 von ihnen Kinder.
Zu den Geschädigten des Irakkriegs gehören das Völkerrecht und die Bürgerrechte. Obwohl die Invasion und die Besatzung gegen das Kriegsvölkerrecht verstossen haben, wurden weder die USA noch Grossbritannien angeklagt. Weltweit wurden Überwachung und Geheimdienste ausgebaut sowie demokratische und persönliche Freiheitsrechte abgebaut. Der Krieg hat zudem in vielen Staaten die Hardliner gestärkt, die Atomwaffen beschaffen wollen. Die Falken krächzen zu den Tauben: «Hätte Saddam Hussein die von Washington und London behaupteten Massenvernichtungswaffen gehabt, wäre der Irak nicht angegriffen worden.»
Eskalation der Muslimfeindlichkeit
Der US-amerikanische Diplomat George F. Kennan nannte den Ersten Weltkrieg wegen seinen verheerenden Folgen die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Auch wenn die Folgen des Irakkriegs nicht vergleichbar mit dem Zweiten Weltkrieg sind, übersteigt ihr zerstörerisches Ausmass die schwärzesten Prophezeiungen der damaligen Friedensbewegung. Er könnte deshalb als die Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen. Eine Folge des Ersten Weltkriegs war die Verschärfung der Judenfeindlichkeit. Der Irakkrieg hat insbesondere in Europa zur Eskalation der Muslimfeindlichkeit beigetragen. Sie ist der Nährboden des neuen Rechtsextremismus und eine der schwersten Belastungen für die Demokratie.