Was bringt der Atomwaffenverbotsvertrag, wenn Nuklearmächte wie die USA, Russland oder Pakistan die Vereinbarung ablehnen? Nimmt man eine langfristige Perspektive ein, erscheint die Vision einer atomwaffenfreien Welt plötzlich greifbarer.
Das Übereinkommen über das Verbot chemischer Waffen (CWÜ), das am 29. April 1997 in Kraft trat, verbietet Entwicklung, Herstellung, Besitz, Weitergabe und Einsatz chemischer Waffen. Seitdem hat sich das CWÜ als einer der erfolgreichsten Abrüstungsverträge erwiesen. Mit Ausnahme von Ägypten und wahrscheinlich zu einem kleinen Teil Syrien haben alle Staaten ihre Bestände von Chemiewaffen in den letzten Jahren vernichtet. Die Vertragsstaaten kontrollieren gegenseitig nicht nur, dass keine Lager mehr vorhanden sind, sondern sie überprüfen auch Fabriken, die potentielle Vorprodukte herstellen oder verarbeiten.
Uns ist zumeist gar nicht bewusst, wie erfolgreich das Übereinkommen ist, weil dessen Erfolg sich gerade darin zeigt, was nicht denkbar ist. Chemiewaffen sind derart geächtet, dass kein Staat es wagt, mit ihrem Einsatz zu drohen. Weder in Palästina noch in der Ukraine kommen tödliche chemische Kampfstoffe zum Einsatz, obwohl das in einer rein militärischen Logik durchaus eine effektive Option sein könnte.
Die Theorien der internationalen Beziehungen
Gemäss der klassischen Grosstheorie der internationalen Beziehungen, dem Realismus, dürfte es kein solches Übereinkommen geben. In diesem Modell sind alle Staaten egoistische Akteure, die einzig auf ihre eigene Macht und ihre eigene Sicherheit bedacht sind. Kooperation findet nur kurzfristig und zum eigenen Nutzen statt. Dem gegenüber steht der rationalistische Institutionalismus, der feststellt, dass sich auch auf internationaler Ebene Normen bilden können, die sich im Völkerrecht und in internationalen Regimes manifestieren. Die Staaten können erkennen, dass sie ein gemeinsames Interesse an Regeln haben, denen sie sich freiwillig unterwerfen. Eine solche Kooperation ist auch in einer nicht-hegemonialen Ordnung möglich, das heisst, ohne dass von einer Institution ein Gewaltmonopol durchgesetzt wird. Der Konstruktivismus schlussendlich erweitert das Modell dadurch, dass die Staaten nicht mehr monolithische Einheiten sind, sondern dass ihre Ziele durch Ideen und soziale Bewegungen beeinflusst werden können.
Bereit sein im richtigen Moment
1946 schlug die damalige alleinige Atommacht USA der UNO vor, einseitig auf den Besitz von Nuklearwaffen zu verzichten und alles Wissen und alles spaltbare Material an eine von der UNO kontrollierten Organisation zu übergeben. Der Vorschlag scheiterte an Stalins Misstrauen. Auch nach dem Fall der Mauer gab es einen kurzen Moment der Weltgeschichte, in dem mit mehr Weitsicht eine umfassende nukleare Abrüstung möglich gewesen wäre.
Unterdessen haben mehr als 90 Staaten den Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnet und es werden laufend mehr. Die Unterstützung wird im Laufe der Zeit weiter zunehmen. Länder, die anfangs zögerten, dem Vertrag beizutreten – sei es, weil sie die Missbilligung ihrer Verbündeten fürchteten, sei es, weil sie an dem Irrglauben festhielten, dass Atomwaffen Sicherheit bringen –, werden sich schliesslich gezwungen sehen, ihre Position zu überdenken.
Es wird in Zukunft wieder historische Gelegenheiten geben, in denen es möglich sein wird, analog zum Verbot chemischer Waffen die Ächtung von Atomwaffen global durchzusetzen. Das wird nicht heute sein, sondern vielleicht in zehn oder zwanzig Jahren, wenn das Regime in Moskau – wie früher oder später jedes autoritäre Regime – kollabiert ist. Voraussetzung wird einerseits sein, dass die heutigen Nuklearmächte erkennen, dass ein globales Verbot auch ihrer Sicherheit dient. Andererseits wird es den Druck möglichst vieler Staaten brauchen, die auf ein Verbot drängen. Die Atomwaffenverbots-Initiative ist unser konstruktivistischer Beitrag, die dafür nötige globale Norm zu festigen und zu vertiefen.