Für eine nüchterne Bedrohungsanalyse

Die Schweizer Sicherheitspolitik hat jedes Augenmass verloren. Elf Punkte, um ein wenig Nüchternheit zurückzubringen.

Gemäss den aktuellen Armee- und sicherheitspolitischen Berichten des Bundes ist ein bewaffneter Angriff auf die Schweiz äusserst unwahrscheinlich. Diese Formulierung wurde nach dem Angriff auf die Ukraine sogar noch deutlicher gewählt als zuvor. 

Für die Schweiz war der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine keine Zeitenwende der realen militärischen Bedrohung. Aber es war dennoch eine sicherheitspolitische Zeitenwende: Die Bürgerlichen haben seither alle Hemmungen und jedes Mass verloren in ihren Forderungen nach Aufrüstung. Dieser Ausgabenwut ordnen sie alles unter: Altersvorsorge, Klimaschutz, Bildung. Die bürgerliche Hegemonie schadet aber auch der Sicherheit der Schweiz, weil sie die Sicht auf die realen Bedrohungen vernebelt.

Die Schweiz muss deshalb eine nüchterne Bedrohungsanalyse vornehmen, die nicht auf einem subjektiven Gefühl der Gefährdung basiert, sondern auf dem Boden der Realität. Wir müssen unseren Fokus auf die Risiken legen, deren Eintretenswahrscheinlichkeit und deren Schadenspotential am grössten ist und in Mittel investieren, welche dagegen tatsächlich etwas nützen.

Die Klimakrise muss endlich als Gefahr für die nationale Sicherheit anerkannt werden. Kaum eine andere Bedrohung hat für die Menschheit ein derart hohes Schadenspotential wie der durch unsere Emissionen verursachte Temperaturanstieg. Die Wahrscheinlichkeit und das Ausmass immenser Schäden steigt mit jedem Jahr der Untätigkeit. Obwohl die Schweiz gemäss den Klimamodellen besonders betroffen sein wird, sind die Investitionen unseres Landes in Entkarbonisierung weiterhin nicht einmal im Ansatz genügend.

Es braucht massive Investitionen in die Katastrophenhilfe. Die Schweiz ist derzeit auf diverse reale Gefahren nur unzureichend vorbereitet. Das Schweizer Gesundheitswesen wäre im Moment bereits bei einem Ereignis mit mehr als 25 Schwerverletzten überfordert. Gemäss dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz wäre jedoch jederzeit ein Erdbeben möglich, bei dem 10’000 Verletzte zu versorgen wären.

Es braucht eine Militärdoktrin, welche die geographische Lage der Schweiz einbezieht. Die Schweiz liegt nicht im Baltikum, sondern sie ist von einem dichten Ring von Natostaaten umgeben. Selbst wenn die USA nicht mitgezählt werden, haben die Natostaaten in den vergangenen Jahren ein Mehrfaches in ihr Militär investiert als Russland. Putins Armee hat aus militärischen, wirtschaftlichen, aber auch demographischen Gründen keine Chance, die Nato ernsthaft mit konventionellen Mitteln herauszufordern. Es gibt kein realistisches Szenario, in dem seine Truppen plötzlich auf der anderen Seite des Bodensees stehen.

Das Parlament muss einen Marschhalt bei den Armeeausgaben einlegen. Das Parlament muss die Armeebotschaft 2024 mitsamt allen fünf Beschlüssen, insbesondere dem Rüstungsprogramm 2024, dezidiert ablehnen.

Die Sicherheitspolitiker*innen müssen akzeptieren, dass die Schweiz ein neutrales Land ist. Mehr als 90 Prozent der Schweizer Bevölkerung will an der Neutralität festhalten, die Neutralität ist in der Bundesverfassung festgehalten. Die Schweiz hat nicht nur keine Beistandsverpflichtung. Im Gegenteil: Ihr ist es verboten, militärischen Beistand zu leisten. An dieser Tatsache muss sich endlich auch die Schweizer Rüstungsplanung orientieren.

Wir wollen eine echte Solidarität mit unseren europäischen Nachbarn. Es nützt niemandem etwas, wenn zusätzliche Kampfjets und Panzer durch die Schweizer Alpen kurven. Auch als neutrales Land hat die Schweiz zahlreiche Möglichkeiten, um zu einer stabilen Sicherheitsarchitektur in Europa und weltweit beizutragen. Dazu gehört unter anderem die humanitäre Hilfe für die Ukraine – beispielsweise im Energiesektor – sowie die Durchsetzung der Sanktionen gegen Russland.

Die Schweiz muss aufarbeiten, wie wir zur Aufrüstung Russlands beigetragen haben. Unabhängig der politischen Einstellung sollte es Konsens sein, dass es ein strategischer Fehler ist, militärische Aggressoren aufzurüsten. Um aus der Vergangenheit zu lernen, braucht es eine öffentliche Aufarbeitung der Zusammenarbeit der Schweiz mit der russischen Rüstungsindustrie.

Der Bundesrat muss endlich echte Kostentransparenz schaffen. Die geplanten Ausgaben für Rüstungsbeschaffungen werden Unterhalts- und Betriebskosten und später Entsorgungskosten in Milliardenhöhe verursachen. 

Die bürgerliche Unehrlichkeit muss enden. Die Armee wurde nicht “kaputtgespart”. Im Gegenteil, die Schweizer Militärausgaben steigen bereits seit zwei Jahrzehnten deutlich. Fakt ist: Kaum ein Land in Europa gibt pro Kopf so viel Geld für die Armee aus wie die Schweiz.

Die Politik hat die Bevölkerung einzubeziehen. Gemäss den Umfragen der MILAK befürworten gerade einmal 20 Prozent der Bevölkerung höhere Armeeausgaben. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung hat kaum eine Stimme in der Politik, auch weil gegen die Budgeterhöhungen kein Referendum ergriffen werden kann. Das könnte das Parlament ändern.