Die Manipulation der Gegenwart durch die Vorwegnahme der Zukunft

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 sah sich die US-Regierung veranlasst, gegen die neuen Bedrohungen der asymmetrischen Kriegsführung eine politisch-militärische Antwort zu formulieren: den Präventivkrieg. Doch inwiefern darf eine solche Praxis der «antizipatorischen Selbstverteidigung» als legitimes politisches Mittel angesehen werden? Und was sind die Alternativen zu dieser militärischen Strategie?

Von Rob van de Pol

Asymmetrie als Konsequenz des Staatszerfalls

Das globale Mächtegleichgewicht, das im 19. und in weiten Teilen des 20. Jahrhunderts auf dem Vorhandensein von ungeteilten nationalstaatlichen Gewaltmonopolen beruhte und in den Jahren des Kalten Krieges auf dem hypothetischen Schreckensszenario einer verheerenden nuklearen Weltkatastrophe fusste, hat seit dem Ende des Ost-West-Konflikts einer neuen politischen und militärischen Dynamik Platz gemacht. Beherrschten bis anhin vorwiegend symmetrische Staatenkriege die internationale Politikarena, traten nun in zunehmenden Masse asymmetrische «globalisierte Kriege» (nach Mary Kaldor) hinzu. Charakteristisch für diese Kriegsform ist der Umstand, dass sie mit der Fragmentierung und Privatisierung des staatlichen Gewaltmonopols einhergeht und sich über längere Zeitperioden ohne explizite Verfolgung bestimmter politischer Ziele erstreckt. Die Protagonisten dieser «low intensity wars» sind nicht mehr souveräne Nationalstaaten, sondern «immer häufiger parastaatliche, teilweise sogar private Akteure – von lokalen Warlords und Guerillagruppen über weltweit operierende Söldnerfirmen bis zu internationalen Terrornetzwerken -, für die der Krieg zu einem dauerhaften Betätigungsfeld geworden ist» (Kaldor).

Hinsichtlich der Frage der Verhinderung solcher Kriege und der entsprechenden Mittelwahl prallen nun im Wesentlichen zwei politisch-philosophische Lager aufeinander: Auf der einen Seite stehen die sich auf Immanuel Kant berufenden politischen Idealisten, die auf die Einhaltung und Weiterentwicklung des kollektiven, auf dem Völkerrecht basierenden Sicherheitssystems beharren und militärische Gewaltmassnahmen nur in äussersten Notsituationen billigen möchten. Auf der anderen Seite argumentieren die politischen Realisten, die eine Parallelität zwischen der brutalen, von Thomas Hobbes skizzierten Naturzustandskonzeption und der gegenwärtigen Weltlage sehen und die mit militärischen Massnahmen auf die neuen Bedrohungen reagieren möchten. Die amerikanische Doktrin des Präventivkriegs ist eine Mischung aus diesen beiden Positionen, da sie sich einerseits – wenn auch oftmals nur zum Schein – auf das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung im Rahmen der völkerrechtlichen Prinzipien beruft, anderseits aber auch unilaterales militärisches Vorgehen ohne vorherige internationale Konsensfindung in Erwägung zieht.

Präventivkrieg und die Gefahren der Antizipation

Präventives Handeln, wie es die Bush-Administration versteht, ist antizipatorisches Handeln. Antizipation wiederum kann definiert werden als ein Versuch der Vorwegnahme von zukünftigen Geschehnissen bzw. eine in die Zukunft gerichtete Extrapolation auf der Basis des gegenwärtigen Wissensfundus. Durch eine solche Handlungspolitik werden gleich mehrere Problemfelder tangiert: a) Das Problem der subjektiven Wahrnehmung aufgrund der Heterogenität der Informationsquellen b) das Problem der unterschiedlichen Handlungsmotivation, da Politikprioritäten länderspezifisch ausgeprägt sind c) das Problem der offenen Zukunft und der damit verknüpfte Aspekt der unintendierten Folgen, weil (d) Handlungen erhebliche Nebenwirkungen hervorrufen können. Zu guter Letzt soll noch das Problem der Nachahmung (e) erwähnt werden, das der Gefahr einer horizontalen Gewalteskalation Tür und Tor öffnet.

Plädoyer für eine Kultur der Prävention

Es scheint eine Binsenwahrheit zu sein, dass terroristische Attentate neue militärisch-präventive Massnahmen provozieren, die wiederum als Rechtfertigungsgrundlage für weitere brutale Attacken dienen. Die Ursachen, die den Asymmetrien unserer Welt zugrunde liegen, werden durch militärische Einsätze folglich nicht behoben, sondern gar vervielfältigt. Somit stellt sich die dringende Frage nach den Alternativen zur präventiven Selbstverteidigung.

Zumindest liberale Intellektuelle sind sich darüber einig, dass das Konzept der Prävention übernommen und weitergeführt, jedoch politisch-normativ anders aufgeladen werden muss. Der Politikwissenschaftler Benjamin Barber beispielsweise argumentiert in diese Richtung, wenn er von der «präventiven Demokratie» spricht. Er konstatiert, «dass das Einzige, was die Vereinigten Staaten (und nicht nur sie, sondern alle Staaten der Welt) vor Anarchie, Terrorismus und Gewalt zu schützen vermag, die Demokratie selbst ist – Demokratie im Innern ebenso wie Demokratie in den Konventionen, Institutionen und Vertragsbeziehungen, die die Verhältnisse zwischen den Staaten definieren und regeln». In eine ähnliche Richtung zielt auch Mary Kaldor, die in der «kosmopolitischen Alternative» einen begehbaren politischen Weg sieht, wobei sie unter Kosmopolitismus «einerseits eine positive politische Vision, die Toleranz, Multikulturalismus, Zivilität und Demokratie einbegreift» und anderseits die rechtliche Achtung bestimmter vorrangiger universeller Prinzipien versteht. Allen diesen politischen Konzepten ist gemein, dass sie «unverzichtbare Minimalvoraussetzungen symmetrischer Politik» (Münkler) auf der Basis von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wiederherzustellen versuchen. In Anbetracht der Komplexität des internationalen politischen Systems und der unintendierten Folgen, die Handlungen zeitigen können, entspricht eine Politik, die auf Multilateralismus, Dialog und Empathie setzt, der derzeitigen Weltlage weit mehr als eine auf Mutmassungen, Willkür und Spekulation beruhende militärische Strategie.

Rob van de Pol ist Student der politischen Wissenschaften in Zürich. Ausführlichere Überlegungen von ihm zu diesem Thema sind auf unserer Homepage zu finden: 

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