Die Herrschaft der Grossväter

Hunderttausende junge Soldaten sind während ihres ersten Dienstjahres systematischen Misshandlungen durch Dienstältere ausgesetzt. Die Menschenrechtsorganisation «Soldatenmütter von St.Petersburg» appelliert seit Jahren an die russische Öffentlichkeit.

Von Lea Gerber*

«Die russische Armee hat die imperialen Züge der Sowjetära noch immer nicht ablegen können. Dass ein Soldat Rechte hat, Menschenrechte, vor denen selbst das Militär halt machen muss, ist in viele hohe Köpfe noch nicht hineingegangen.» Ella Poliakova, Direktorin der NGO «Soldatenmütter von St.Petersburg», weiss wovon sie redet. Seit fünfzehn Jahren setzt sie sich für die Rechte der Wehrdienstpflichtigen in Russland ein.

Die so genannte «Dedowschtschina», oder «Herrschaft der Grossväter», ist eine Praxis, bei der hunderttausende junge Rekruten während ihres ersten Dienstjahres schweren Misshandlungen durch dienstältere Soldaten ausgesetzt sind. Die Geschichte von Sergei ist stellvertretend für Hunderte, die bei den Soldatenmüttern jedes Jahr anklopfen: «Kaum kam ich in meine Einheit, da hat die Hölle angefangen. Die Dienstälteren haben mich gezwungen, die Arbeit an ihrer Stelle zu machen, mitten in der Nacht den Boden zu putzen, ich musste ihnen Alkohol und Zigaretten beschaffen, und wenn ich ihnen widersprach, kamen sie zu viert oder zu fünft auf mich los.»

Teufelskreis der Vergeltung

Ella Poliakova im Gespräch mit geflüchteten Soldaten

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Praxis der Unterjochung der Erstjährlinge bleibt durch einen endlosen Teufelskreis der Vergeltung bestehen. Die Soldaten «rächen» sich im zweiten Dienstjahr für die erlittenen Misshandlungen, indem sie dieselben Gräueltaten der nächsten Generation von Rekruten antun. Jährlich hat die Dedowschtschina den Tod von dutzenden Rekruten zur Folge, bei tausenden hinterlässt sie bleibende physische und psychische Schäden.

Das Offizierskorps und die russische Regierung haben noch keine wirksamen Schritte gegen diese routinemässigen Prügel und anderen körperlichen Bestrafungen unternommen, obwohl diese Praktiken klar gegen geltende Verhaltensregeln des russischen Militärs verstossen. Laut Ella Poliakova sind viele Offiziere der Überzeugung, die Dedowschtschina sei ein wirksames Mittel, die Disziplin unter den Soldaten aufrecht zu erhalten.

Schmiergelder oder Katz- und Mausspiel

Aufgrund der Horrorgeschichten, die mittlerweile auch in den Medien zirkulieren, versuchen immer mehr russische Eltern ihre Söhne vor dem Militärdienst zu bewahren. «Wer es sich leisten kann, versucht es mit Schmiergeldern», meint Ella Poliakova kühl. Deshalb beziehen die Streitkräfte ihre Rekruten vor allem aus den ärmeren Bevölkerungsschichten. Gerade für diese Menschen machen sich die Soldatenmütter stark. In Seminaren lernen Interessierte, welche ärztlichen Dokumente sie beschaffen müssen, wie sie sich juristisch verteidigen können und wie sie sich gegenüber den militärischen Behörden verhalten müssen. Es gelingt jedoch nur wenigen dienstuntauglich erklärt zu werden. Viele wählen den Weg, sich über Jahre zu verstecken, was ihr Leben zu einem mühseligen Katz- und Mausspiel herabsetzt – gibt es doch ein Kopfgeld von etwa fünfzehn Franken für jeden Wehrdienstpflichtigen, den die Polizei aufspürt.

Militarisierung der Gesellschaft und Anstieg nationalistischer Tendenzen

Die Soldatenmütter läuten die Alarmglocken: Vor einem Jahr wurde die schulische Frühmilitärerziehung für die 10. und 11. Klasse wieder eingeführt. Zusätzlich werden die Kinder in zweiwöchigen Lagern «Patriotischer Bildung» unterzogen. Diese Militarisierung der Gesellschaft ist umso beunruhigender, als in russischen Medien der Hass auf einen imaginären Feind geschürt wird. Der wachsende Fremdenhass richtet sich insbesondere gegen die Kaukasier. Zeugnis dieser Xenophobie ist nicht zuletzt die brandaktuelle Krise zwischen Russland und Georgien, infolge welcher bereits über siebenhundert Georgier von Russland nach Georgien deportiert wurden.


*Lea Gerber studierte Internationale Beziehungen und ist zurzeit in Georgien im NGO-Bereich tätig. Sie hat in St.Petersburg als Volontärin bei den Soldatenmüttern mitgearbeitet.

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