Ginge es nach der Neutralitäts-Initiative oder nach dem Manifest „Neutralität 21“, gäbe es keine Bürgenstock-Konferenz. Für eine nachhaltige Friedenspolitik gibt es einen 3. Weg.
Die hauptsächlich von der SVP getragene Volksinitiative, die eine integrale Neutralität fordert und diese in der Verfassung verankern will, steht in Widerspruch zur sicherheitspolitischen Vernunft und zu den universellen Verpflichtungen eines hoch globalisierten Landes. Die bewaffnete Neutralität ist militärisch und politisch überholt. Sogar der Armeechef Thomas Süssli hat betont, dass sich die Schweizer Armee alleine nicht mehr nachhaltig verteidigen kann. Zudem ist die SVP militärisch völlig inkohärent. So macht der von ihr unterstützte F-35 nur im Rahmen der Nato Sinn. Der mit einem denkbar knappen Volksmehr beschaffte Kampfjet durchbricht die Schallmauer der Neutralität.
Fortsetzung der Geldsack-Neutralität
Der SVP geht es um die Wahrung einer Geldsack-Neutralität, die von der Welt möglichst stark profitiert, für sie aber möglichst wenig Staats- und Konzern-Verantwortung übernimmt. Die beim globalen Rüstungsgeschäft und bei allen Kriegen mitverdient, die sogar über ihre Nationalbank in Atomwaffen investiert. Die einen Putin – selbst nach der Krimannexion – aufrüstet, indem sie ihm die Kriegskasse füllt und für Bomber, Raketen, Patronen Spezialmaschinen liefert. Das Schweizer Finanz- und Fossil-Kapital hat Putin während 20 Jahren einseitig bevorzugt. Die Sanktionen der letzten beiden Jahre haben unser Land – im Gegensatz zur SVP-Behauptung – neutraler gemacht.
Die meisten Kritiken, die das Manifest „Neutralität 21“ an der SVP-Initiative äussert, treffen zu. Insbesondere wenn es darauf hinweist, dass eine Neutralität, die Aggressoren und Angegriffene gleichbehandelt, unfair und ungerecht ist. Allerdings bricht das Manifest selber überhaupt nicht mit der Geldsack-Neutralität. So legt es ein grosses Gewicht darauf, die Schweiz im globalen Geschäft mit dem Tod zu halten. Dessen Forderung nach einer Lockerung des Kriegsmaterialgesetzes verschweigt die Tatsache, dass die einzige konkrete Vorlage im Parlament die Lex Saudi ist. Es gibt keine lukrativeren Kunden für das Rüstungsgeschäft als die Golfstaaten.
Kein Wort zur Putin-Aufrüstung
Zur Geldsack-Neutralität gehört aber vor allem die Verdrängen der weitaus wichtigsten Schweizer Fragen: Könnte Russland seinen Krieg noch finanzieren ohne die Abermilliarden aus der Schweiz? Was meint der mit Zug verbundenen Mitautor Marco Jorio zum grossen Gewicht des ökonomischen Putinismus im „Erfolgsmodell Zug“ (G. Pfister)? Könnte Russland die Ukraine noch mit Raketen und Bombern angreifen ohne die Spezialmaschinen, deren Export die FDP mit einem Pro-Putin-Powerplay 2016 gegen das Seco durchgesetzt hat? Der Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann hat im März 2016 im Ständerat der damaligen Triebwerks-Lobbyistin Karin Keller-Sutter beteuert: „keine ideologische Prüfkriterien“. Was meinen die freisinnigen Manifest-Unterzeichner heute dazu?
Das Manifest erwähnt in keinem Wort den russischen Rohstoffhandel, der zu 60 Prozent über die Schweiz lief und mit dem Putin zuerst sein Regime sicherte und dann die Kriegsmaschine fütterte. Kurz nach Kriegsbeginn, am 5. März 2022, schrieb der NZZ-Chefredaktor Eric Gujer im Samstags-Editorial folgenden Satz: „Dabei steckt der Kreml seit mehr als einem Jahrzehnt jeden Rohstoff-Dollar, den er zusammenkratzen kann, in die Modernisierung seiner Armee.“ Wie glaubwürdig der „Neutralität 21“ die Forderung nach „eigenen“ Sanktionen ist, zeigt das Beispiel Pharma. Während der Rohstoffhandel mit Russland zurückgegangen ist, ist das Pharmageschäft richtiggehend explodiert. Gemäss Public Eye sind nur ein Viertel bzw. ein Fünftel der an Russland gelieferten Medikamente humanitär „essentiell“. An Antikriegs-Demos in der Schweiz forderten Ukrainer:innen von Novartis und Roche: „Stop Business in Russia“. Hätte die Präsidentin der Basler Handelskammer das Manifest unterschrieben, wenn dessen 8. „Embargo“-Punkt auch die Pharma meinen könnte?
„Pazifistischer und moralistischer Mainstream“
Obwohl es politisch schwierig ist, der Ukraine jene jährliche Milliardenhilfe zu leisten, die die Schweiz ihr schuldet, erwähnt das Manifest in keinem Wort die Finanzierung des Wiederaufbaus aus einer Kriegsgewinnsteuer. Dabei ist allen klar: Wer der Ukraine wirklich helfen will, kommt angesichts der angespannten Finanzlage um eine solche nicht herum.
Ganz allgemein gilt: Das Manifest zielt statt auf den Kapitalismus, den wahren Komplizen Putins, auf den Pazifismus, der schon im Jahr 2000 Mahnwachen gegen den Tschetschenienkrieg durchführte und 2006 gegen Zuger Firmen, die für Putin den „Erdgaskrieg gegen die Ukraine“ führten, protestierten? Marco Jorio hat sein Feindbild in der NZZ unter dem Titel „Zur neuen Neutralität“ klar definiert: „Das rigorose Ausfuhrgesetz (…) ist ein schweizerisches Eigengewächs und das Produkt eines pazifistischen und moralistischen Mainstreams.“ (1.4.2023)
Die „Luftschlösser“ der „Nato-Kooperation“
Bei der grundsätzlichen Kritik an der Neutralität geht das Manifest leichtfertig über die Tatsache hinweg, dass die Schweiz nicht einseitig völkerrechtliche Verpflichtungen aussetzen oder abändern kann. Dessen Auslegung der Haager Konventionen und der Uno-Charta ist rechtlich unhaltbar. Neutralität bezieht sich auf die Idee der militärischen Enthaltung in zwischenstaatlichen Konflikten und diese gilt weiterhin und im Einklang mit der Uno-Charta, wenn ein Land neutral sein will. Auch die Tatsache, dass laut jüngster Umfrage der Militärakademie 91 Prozent der Bürger:innen die Neutralität befürworten, wird verwedelt: „In Umfragen will heute immer noch eine Mehrheit an der Neutralität festhalten.“
Die erdrückend hoch bleibende Zustimmung zur Neutralität dürfte der Grund sein, warum statt vom Nato-Beitritt von der „Interoperabilität der Streitkräfte“ die Rede ist. Der ehrliche Beitritts-Befürworter Bruno Lezzi hat diese „Annäherungs“- und „Kooperations“-Szenarien in seinem Buch „Von Feld zu Feld“ (2022) als „Bau von Luftschlösser“ bezeichnet. Die Miliz stände den Nato-Profis bloss im Weg. Und er warnte: „Keinesfalls darf die Illusion genährt werden, dass Neutralitätsrecht und Neutralitätsstatus eine Verteidigungskooperation erlauben, die einen wirklichen Sicherheitsgewinn brächte.“
Besonders befremdlich am Manifest ist die Tatsache, dass der Nahost-Krieg, der die Neutralitätspolitik ebenfalls herausfordert, kommentarlos übergangen wird. Für einen gerechten Frieden in Israel/Palästina würde man gerne erfahren, was „Neutralität 21“ im Zusammenhang mit den Haftbefehlen des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Hamas-Führer und israelische Regierungsmitglieder oder bezüglich der Anerkennung Palästinensischer Staatlichkeit bedeutet. Nachvollziehbar ist hingegen, dass das Manifest auf die Bürgenstock-Konferenz nicht eingeht. Es müsste eingestehen, dass diese völlig chancenlos wäre, hätte die Schweiz Waffen an die Ukraine geliefert.
Neutralität – Universalität – Humanität
Im Unterschied zum Manifest, das die Tatsache, dass „die Neutralität tief verankert“ ist, als Problem betrachtet, betrachten wir sie als Chance. Neutralität birgt – bei allen Fragwürdigkeiten – ein vielfältiges Potenzial für eine aktive und umfassende Friedenspolitik. Die Bürgenstock-Konferenz, dieser erste Schritt auf dem Weg zu einem gerechten Frieden zwischen der Ukraine und Russland, ist ein konkreter Beweis.
Eine fortschrittliche Neutralität geht aus von ihrer Kompatibilität mit Universalität und Humanität. Das schafft eine besondere Verbindlichkeit gegenüber dem Völkerrecht, den Menschenrechten und der UNO, dem Bund der Völker. Ein aktuelles Beispiel ist der Vertrag für das Verbot von Atomwaffen. Nachdem die Schweiz bei dessen Anfängen eine Pionierrolle gespielt und ihm 2017 in der UNO zugestimmt hat, hat der Bundesrat unter dem Druck des Nato-Sonderbundes rechtsumkehrt gemacht. Nun nimmt eine Volksinitiative den UNO-Faden wieder auf und verlangt den Beitritt der Schweiz zum Atomwaffenverbotsvertrag der Völkergemeinschaft. By the way: Was meint das Manifest zur Frage dessen Ratifizierung?
Das Mitmachen in der UNO muss verstärkt werden mit einer intensiveren Pflege der guten diplomatischen Dienste, wie sie einst die Aussenministerin Micheline Calmy-Rey in Israel/Palästina geleistet hat, mit der Ausweitung des Zivildienstes auf Friedenseinsätze, mit dem Ausbau des Katastrophenhilfekorps, der Entwicklungszusammenarbeit wie auch der Beteiligung an UNO-Missionen. Ein neutrales Land hat eine besondere Glaubwürdigkeit bei der Friedensforschung oder bei der Früherkennung von Konflikten. Das was die Friedensstiftung Swisspeace bereits leistet, muss stärker gefördert werden.
Weder Waffenexporte noch Kriegsgeschäfte
Was das Übel der Geldsack-Neutralität betrifft, ist es wichtig, die Lehren aus dem Bergier-Bericht, der den tiefsten politischen und moralischen Absturz in der Geschichte des Bundesstaates thematisiert, ernst zu nehmen. Die Unabhängige Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg hat die kapitalistische Kollaboration mit der Nazi-Tyrannei hoch gewichtet. Die Mitverantwortung der Schweizer Wirtschaft und Wirtschaftspolitik bei der Putin-Aufrüstung ruft nach einem ähnlichen (wenn auch weniger umfangreichen) Bericht. Gerade weil die Schweiz im Rohstoffhandel eine Grossmacht ist, verpflichtet eine weltsolidarisch verstandene Neutralität zur Konzernverantwortung wie auch zur Steuergerechtigkeit.
Das naheliegendste, was die Schweiz für den Frieden auf der Welt leisten kann, ist der Verzicht auf Waffenexporte und Kriegsgeschäfte. Und das existenziell dringendste ist das globale Engagement gegen den Klimawandel. Dieser ist bekanntlich das grösste Sicherheitsrisiko für den Planeten und die Menschheit. Und er hat viel zu tun mit jenen Rohstoffen, die auffällig häufig Kriege füttern. Der Bundesrat, dessen Bürgenstock-Initiative die Unterstützung aller Bürgerinnen und Bürger guten Willens verdient, wäre glaubwürdiger, er würde zu dieser Mitverantwortung der Schweiz für Putins Angriffskrieg stehen.