Neutralitäten im Bürgenstock-Test

Die Bürgenstock-Konferenz Mitte Juni war für die Ukraine ein wichtiger Erfolg. Wäre es nach der Neutralitäts-Initiative der SVP oder nach dem Manifest Neutralität 21 gegangen, hätte es sie gar nicht gegeben. Sie passt aber zu einer solidarischen Neutralität.

Die hauptsächlich von der SVP getragene Volksinitiative, die eine „integrale Neutralität“ fordert, steht im Widerspruch zur sicherheitspolitischen Vernunft und zu den universellen Verpflichtungen eines hoch globalisierten Landes. Ihre „bewaffnete Neutralität“ ist militärisch und politisch überholt. 

Geldsack-Neutralitäten

Der SVP geht es um die Wahrung einer Geldsack-Neutralität, die von der Welt möglichst stark profitiert, für letztere aber möglichst wenig Staats- und Konzern-Verantwortung übernimmt. Deshalb war ihr die Bürgenstock-Konferenz zuwider. Das Schweizer Finanz- und Fossil-Kapital hat Putin während 20 Jahren einseitig bevorzugt. Die Sanktionen der letzten beiden Jahre haben unser Land – im Gegensatz zur SVP-Behauptung – neutraler gemacht. 

Die meisten Kritiken, die das Ende Mai veröffentlichte Manifest „Neutralität 21“ an der SVP-Initiative äussert, treffen zu. Insbesondere wenn es darauf hinweist, dass eine Neutralität, die Aggressoren und Angegriffene gleich behandelt, unfair und ungerecht ist. Allerdings bricht das Manifest selber überhaupt nicht mit der Geldsack-Neutralität. So legt es ein grosses Gewicht darauf, die Schweiz im globalen Geschäft mit dem Tod zu halten. Dessen Forderung nach einer Lockerung des Kriegsmaterialgesetzes verschweigt die Tatsache, dass die einzige konkrete Vorlage im Parlament die Lex Saudi ist. Die Bürgenstock-Konferenz bleibt unerwähnt, weil Waffenlieferungen an die Ukraine diese unmöglich gemacht hätten.

Zur Geldsack-Neutralität gehört aber vor allem das Verdrängen der weitaus wichtigsten Schweizer Fragen: Könnte Russland seinen Krieg noch finanzieren ohne die Abermilliarden aus der Schweiz? Könnte es die Ukraine noch mit Raketen und Bombern angreifen ohne die Spezialmaschinen, deren Export die FDP 2016 gegen das Seco durchgesetzt hat? Wie unglaubwürdig die Forderung der Neutralität 21 nach „eigenen“ Sanktionen ist, zeigt das Beispiel Pharma. Während der Rohstoffhandel mit Russland zurückgegangen ist, ist das Pharmageschäft richtiggehend explodiert. Hätte die Präsidentin der Basler Handelskammer das Manifest unterschrieben, wenn dessen „Embargo“-Punkt auch die Pharma meinen könnte?

Friedenspolitische Neutralität 

Im Unterschied zum Manifest, das die Tatsache, dass „die Neutralität tief verankert“ ist, als Problem betrachtet, betrachten wir sie als Chance. Neutralität birgt ein vielfältiges Potenzial für eine aktive und umfassende Friedenspolitik. Die Bürgenstock-Konferenz, dieser erste Schritt auf dem Weg zu einem gerechten Frieden zwischen der Ukraine und Russland, ist ein konkreter Beweis.

Eine friedenspolitische Neutralität geht von ihrer Kompatibilität mit Universalität und Humanität aus. Das schafft eine besondere Verbindlichkeit gegenüber dem Völkerrecht, den Menschenrechten und der UNO. Ein aktuelles Beispiel ist der Vertrag für das Verbot von Atomwaffen. Das Engagement in der UNO muss verstärkt werden mit einer intensiveren Pflege der guten diplomatischen Dienste, mit der Ausweitung des Zivildienstes auf Friedenseinsätze, mit dem Ausbau des Katastrophenhilfekorps, der Entwicklungszusammenarbeit wie auch der Beteiligung an UNO-Missionen. Ein neutrales Land hat eine besondere Glaubwürdigkeit bei der Friedensforschung oder bei der Früherkennung von Konflikten. 

Das Naheliegendste, was die Schweiz für den Frieden auf der Welt leisten kann, ist der Verzicht auf Waffenexporte und Kriegsgeschäfte. Und das existenziell dringendste ist das globale Engagement gegen den Klimawandel. Dieser ist nicht nur das grösste Sicherheitsrisiko. Er hat viel zu tun mit jenen Rohstoffen, die häufig Kriege füttern. Der Bundesrat, dessen Bürgenstock-Konferenz von uns unterstützt wurde, wäre glaubwürdiger, er würde zu dieser Mitverantwortung der Schweiz für Putins Angriffskrieg stehen.